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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1370-1371

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wehr, Gerhard

Titel/Untertitel:

Jakob Böhme. Ursprung. Wirkung. Textauswahl. Wiesbaden: Marixverlag 2010. 256 S. 8°. Geb. EUR 15,00. ISBN 978-3-86539-236-7.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Die Schriften Jakob Böhmes gehören nach dem Urteil von Sprachforschern zu den schwierigsten Texten der Weltliteratur. Jahrhunderte hindurch haben sie auf Philosophie, Theologie und Geistesleben der europäischen Völker tief eingewirkt und auch in außereuropäischen Kulturen, besonders in Ostasien, finden sie bis zur Ge­genwart Beachtung.
Die besondere Wirkung verdankt sich vor allem der sprachschöpferischen Kraft dieses Schriftstellers, der seine Gotteserfahrung, Eingebungen und Tiefenreflexionen oft in ganz eigengeprägten Wortkombinationen zum Ausdruck brachte. Besonders hat Böhme den Blick auf die klangliche Bedeutung der deutschen Sprache gerichtet und ein ganz eigenes Konzept von Natursprache entwickelt. Das ist für alle sprachliche Kommunikation von großem Interesse. Echtes Verstehen ist nach Böhme nur durch Laut und Klang möglich, eine Signatur muss die andere zum Erklingen bringen. Das gilt sowohl im Gegenüber von Mensch zu Mensch wie auch vor allem für die Gott-Mensch-Beziehung.
Schon 1977 hat der Schriftsteller Gerhard Wehr, der zu Mystik und Spiritualität in der Geschichte des Christentums, zur Geistes- und Theologiegeschichte, zur Religionsphilosophie und Tiefenpsychologie sowie zu religiösen und weltanschaulichen Phänomenen der Moderne grundlegende Werke vorlegte, die erste Schrift Jakob Böhmes ungekürzt herausgegeben: »Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Die Wurzel oder Mutter der Philosophie, Astrologie und Theologie aus rechtem Grunde oder Beschreibung der Natur«. Sie ist aus visionären Erlebnissen um 1600 hervorgegangen und nach einer längeren Inkubationszeit 1612 binnen fünf Monaten niedergeschrieben worden. Es folgte eine Studienausgabe W.s mit den Hauptschriften Böhmes, ebenfalls jeweils ungekürzt dargeboten und mit Einleitungen zu den einzelnen Schriften und Kommentierung sowie Erklärung von Wörtern und Begriffen durch Fußnoten versehen, womit ein Weg für heutige Leser in die Schriften Böhmes authentisch eröffnet ist.
Das hier anzuzeigende Buch W.s nimmt seine lebenslange, intensive Beschäftigung mit Jakob Böhme auf und weitet sie auf die er­staunliche Wirkungsgeschichte seines Erlebens und Denkens aus. Das ist sowohl für die Böhme-Forschung wie auch für Interessierte jenseits der wissenschaftlichen Fachfragen von erheblicher Relevanz. Denn Jakob Böhme, nach dem Urteil von Georg Christoph Lichtenberg im 18. Jh. einer der ersten Schriftsteller Deutschlands, wird hier in seiner Wirkungsgeschichte von der frühzeitigen Rezeption seiner Schriften noch zu Lebzeiten Jakob Böhmes durch die »Tiefengeschichte« des Abendlandes bis zum 20. Jh. so nachhaltig und oft durch bisher kaum beachtete, neu eröffnete Perspektiven nachgespürt, dass die Lektüre nicht nur für Böhme-Kenner, sondern für alle geistig Interessierten geradezu faszinierend ist.
In den ersten vier Kapiteln wird Jakob Böhme auf dem Hintergrund der geistigen Situation seiner Zeit vorgestellt, wobei die Traditionslinien vor ihm weit ausgreifend dargestellt werden und die besondere Schwellensituation seines Lebens und schriftstellerischen Schaffens in der frühen nachreformatorischen Zeit in den Blick tritt. Es folgen Aspekte der Wirkungsgeschichte Böhmes zunächst im Überblick und sodann in ausführlicher, intensiver Darstellung von der ersten Phase der Böhme-Rezeption im Um­kreis des Autors, über die niederländischen Böhme-Liebhaber zu den Reaktionen im deutschen Pietismus (Philipp Jakob Spener und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf) zu Friedrich Christoph Oetinger, auf den besonders ausführlich eingegangen wird. Von Oetinger geht es zu Goethe und zu den Philosophen Hegel, Schelling, Baader und Schopenhauer sowie zu Hölderlin. Die romantische Böhme-Begeisterung (Ludwig Tieck, Novalis) beschließt diese Umschau der direkten und indirekten Böhme-Nachwirkungen, die vom 19. bis ins 20. Jh. bei so unterschiedlichen Denkern wie Paul Tillich, C. G. Jung und Rudolf Steiner führt.
Am Schluss macht W. auch auf die im Verborgenen lebende Böhme-Gemeinde aufmerksam, die über Generationen hinweg Ur­schriften Böhmes aufbewahrte, so auch das Erstlingswerk »Aurora oder Morgenröte im Aufgang«. Der Böhme-Forscher Werner Buddecke hat diese kostbare Handschrift 1934 in Linz am Rhein erstmals wieder wahrnehmen können, von wo sie nach mancherlei Gefährdungen in der NS-Zeit heute in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrt wird und der internationalen Böhme-Forschung zugänglich ist. Zwei Forschungszentren widmen sich ge­genwärtig besonders der Böhme-Forschung: das Internationale Jakob-Böhme-Institut in Görlitz und die Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam.
Die instruktive, viele Denkanstöße vermittelnde Darstellungsweise W.s wird mit Auszügen aus den Werken Böhmes beschlossen, denen die große Werkausgabe von Will-Erich Peuckert zugrunde liegt (Stuttgart 1955 ff.). Die der heutigen Schriftweise angeglichene Textgestalt folgt den von W. herausgegebenen und kommentierten Schriften Böhmes in der Insel-Taschenbuchausgabe (Frankfurt a. M. 1992 ff.). – Eine besondere Kostbarkeit ist die internationale, um­fangreiche Böhme-Bibliographie, die in nahezu erschöpfender Weise die heute zugängliche Böhme-Literatur zusammengestellt hat, womit der Böhme-Forschung ein wichtiger Dienst erwiesen ist.