Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1365-1367

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Glöckner, Dorothea

Titel/Untertitel:

Das Versprechen. Studien zur Verbindlichkeit menschlichen Sagens in Søren Kierkegaards Werk Die Taten der Liebe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XI, 236 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 39. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149966-1.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Im Zuge der Kierkegaard-Renaissance der letzten 15 Jahre ist das Problem der Sprache neu ins Blickfeld gerückt. In dem hier anzuzeigenden Buch legt Dorothea Glöckner eine Rekonstruktion der Kierkegaardschen Sprachauffassung vor, die sich an der Sprachform des Versprechens orientiert. Das Versprechen soll als dieje­nige Sprachform herausgearbeitet werden, in der die Verbindlichkeit menschlichen Sprechens Ausdruck findet. Diese Rekonstruktion wird anhand der »Taten der Liebe« (TL) von 1847 vorgenommen.
Nach einem kurzen Einleitungsteil, der über die Disposition der Arbeit und einige Forschungsperspektiven informiert, folgt eine Interpretation von TL (21–163). Die Vfn. geht die einzelnen der insgesamt 19 Reden kommentierend durch. Ihre leitende These ist, dass Kierkegaard in diesem Werk einen fundamentalen Sprachgegensatz von »menschlicher« und »christlicher« Sprache ins Spiel bringt. Kierkegaard konstruiert seine Interpretationen des bib-lischen Liebesgebotes im ersten Teil des Werkes entlang dieses Gegensatzes. Der menschliche Sprachgebrauch versteht demnach unter Liebe etwas völlig anderes als der christliche, und der Unterschied liegt wesentlich am Begriff des Nächsten. Erst der christ­-liche Sprachgebrauch vermag es, diesen Begriff zu denken, und damit ändert sich die gesamte Grammatik der sozialen Bezüge. Die Existenz wird umgedeutet. In späteren Äußerungen geht Kierkegaard noch weiter, wenn er »eine Transformierung des menschlichen in den christlichen Sprachgebrauch« fordert (42). Die Vfn. interpretiert dies als »Kierkegaards Konzept der Sprachkehre« (ebd.) und findet in diesem Konzept das sprachtheoretische Leitmotiv für die Argumentation in TL.
Analog zu dieser an der Semantik der Texte orientierten Interpretationsarbeit verläuft die materiale Rekonstruktion einer »Grammatik der Gleichheit« (47). Kierkegaards Auffassung unbedingter und universaler Gleichheit der Handelnden vor Gott erlaubt es, vom christlichen Begriff des Nächsten aus die unbedingte Vorgängigkeit des Du vor jedem Ich-Anspruch zu postulieren. Die »Grammatik der Liebe« wird als eine »Grammatik der Gleichheit« nachgewiesen (106). In Auslegung des Liebesgebots konstruieren die Texte einen »idealen Sprachgebrauch« (78), der dem menschlichen Sprachgebrauch gegenübergestellt wird. Die Reden des zweiten Teils »nehmen ihren Ausgangspunkt in der Wirkkraft einer sich selbst zusagenden Liebe« (ebd.). Ihr Leitmotiv ist die Selbstrücknahme des Sprechenden, in dem sich »ein konsequent vom Du her regiertes Sagen realisiert« (ebd.). Liebe erbaut, so setzt dieser zweite Teil ein, aber solche Erbauung der Liebe ist immer »mit einer bestimmten Weise verzichtenden Sprechens« verknüpft (85). Das Leitmotiv der Selbstrücknahme zeigt sich in Phänomenen wie Hoffen, Glauben oder Verzeihen, die Gegenstand dieser Reden sind. Dabei interpretiert die Vfn. Kierkegaards Aussagen über die Liebe als ein »Mitsagen der Liebe« im menschlichen Sprechen, das die »Unabgeschlossenheit und Zukunftsoffenheit menschlichen Sagens begründet (152).
Hinsichtlich der für die Interpretation von TL wichtigen Frage nach dem kompositorischen Verhältnis der beiden Buchteile gelangt die Vfn. zu einer interessanten Variante: Sie interpretiert dieses Verhältnis nicht nur als das von Im­perativ und Indikativ der christlichen Liebe, sondern als ein Wie­derholungsverhältnis: Die Reden des zweiten Teils werden als Wiederholungen von entsprechenden Reden des ersten Teils gelesen, die jeweils identische Motive und Fragen erneut aufnehmen und neu beleuchten. Die Gesamtkomposition von TL wird als eine »hierarchisch geordnete Folge von Text-Wiederholungen« beschrieben (148).
Hinsichtlich der leitenden Fragestellungen nach den Bestimmungen verbindlichen Sprechens wird als Ergebnis der Textarbeit festgehalten: Die »Anrede des Nächsten sowie eine das Gute erhoffende Ausrichtung auf die Zukunft« seien die wesentlichen Momente solcher Verbindlichkeit (168). Im abschließenden dritten Teil des Buches nimmt die Vfn. nun ein einziges Motiv auf, um damit Kierkegaards Sprachauffassung zu bündeln: das Versprechen. Die These lautet jetzt: »Verbindliches Sprechen ist in letzter Hinsicht immer zukunftsbezogen« (ebd.). Exkurse zu den Versprechenstheorien anderer Autoren (Lipps, Arendt, Ricœur) dienen der weiteren Profilierung dieser These, die schließlich lautet: Versprechen ist hoffendes Sagen (208 f.). Ein Anhang mit zwei weiteren kurzen Texten der Vfn. und von Hannah Arendt sowie ein Namen- und Sachregister beschließen den Band.
Es ist das Verdienst dieser Arbeit, den Blick noch einmal neu auf die Relevanz der Sprachthematik für Kierkegaards Werk zu lenken. Im quasi-kommentierenden Durchgang durch TL und in einer oft sehr sensiblen Textinterpretation schärft die Studie den Blick für neue Zusammenhänge. Allerdings sind auch Defizite zu benennen:
1. Anlage und Ziel der Arbeit, die sich zwischen Kommentar und Monographie bewegt, sind unklar. Dass sich in TL Kierkegaards Theorie des Versprechens finden lasse, wird man auch nach der Lektüre kaum sagen können. Dafür ist dieses Motiv in TL zu randständig – und das tatsächliche Ergebnis zu dürftig, gemessen an dem überbordenden begrifflich-literarischen Reichtum der Kierkegaardschen Texte.
2. Die These, Kierkegaard stelle menschliche und christliche Sprache als fundamentalen Gegensatz einander gegenüber, ist in ihrer (theologischen) Konsequenz überzogen, zumindest was TL betrifft. Die Vfn. fällt mit ihrer schroffen Gegenüberstellung in ältere Interpretationsmuster zurück, die den Blick auf Kierkegaards »praktologischen« Denkansatz (I. U. Dalferth) und auf seine spezifischen Textstrategien verstellen.
3. Die Untersuchung leidet an einer Unterbestimmung des Sprachbegriffs. Die Sprache wird von der Vfn. ausschließlich hinsichtlich ihrer semantisch-lexikalischen Dimension thematisiert: Sprache ist demnach ein Wörterbuch, ein »Sprachgebrauch« im Sinne eines bestimmten lexikalischen und grammatischen Inhalts. Die pragmatischen, performativen und expressiven Dimensionen des Sprechens als Sprechakt hingegen werden nicht für den zu erarbeitenden Sprachbegriff fruchtbar gemacht, obwohl doch gerade sie in TL so wichtig sind. In sprachtheoretischer Hinsicht wäre sicherlich eine Berücksichtigung der Sprechakttheorie sinnvoll gewesen – zumal es Autoren wie Austin und Searle waren, die das Versprechen als einen exemplarischen Fall von (performativen bzw. illokutionären) Sprechakten in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellten.