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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1362-1364

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hrsg. u. bearb. v. Th. J. Kück. Mit Geleitworten v. H. Hirschler u. H. Otte

Titel/Untertitel:

Zur Lage der Kirche. Die Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens 1934–1947. 3 Bde.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 1899 S. m CD-ROM. gr.8°. Geb. im Schuber. EUR 99,00. ISBN 978-3-525-55320-6.

Rezensent:

Thomas Rheindorf

Der Themenkomplex »Kirche und Nationalsozialismus« darf als einer der gut erforschten in der theologischen wie profanen Ge­schichtswissenschaft gelten. Wenn eine wissenschaftliche Publikation in diesem Bereich über den Kreis spezialisierter Fachgelehrter hinaus Beachtung finden möchte, so wird sie – neudeutsch gesprochen – ein Alleinstellungsmerkmal tragen müssen – idealerweise bislang unentdecktes oder brachliegendes Material aufarbeiten und zur Verfügung stellen. Die Edition der Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens 1934–1947, besorgt von Thomas Jan Kück, stellt solch ein Unternehmen dar.
Der Haupttitel des 3-bändigen, gut 1900 Seiten starken Werks erinnert etwas an die auf katholischer Seite von Bernhard Stasi­ewski und P. Ludwig Volk SJ im Auftrag der Kommission für Zeitgeschichte bei Schöningh von 1968–85 herausgegebene 6-bändige Quellensammlung »Akten deutscher Bischöfe zur Lage der Kirche 1933–45«. Entsteht in dieser Edition ein Cluster kirchlichen (d. h. katholischen) Agierens und Reagierens in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges durch die Sammlung von Quellen heterogener Gattungen, wie Protokollen, (Hirten-)Briefen, Berichten etc., so beschränkt sich die Edition von Thomas Kück auf die Veröffentlichung eines Kommunikationskanals: des bischöflichen Wochenbriefs. Dies allerdings nicht nur exemplarisch, sondern vollständig.
Der 1875 in Hannover geborene August Friedrich Karl Marahrens war von 1925–47 Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Seit dem 21. September 1934 brachte er bis zum Ende seiner Amtszeit 1947 an die Pastoren seiner Kirche gerichtete »Wochenbriefe« heraus. »Marahrens selbst hat diesen Begriff geprägt und damit zweierlei zum Ausdruck gebracht: Es waren persönliche Briefe, keine allgemeinen Rundschreiben, und sie wurden regelmäßig, genauer gesagt: wöchentlich geschrieben.« (55) Erst im fortgesetzten Stadium des Krieges, mit dem Versorgungsengpässe einhergingen, erschienen sie zeitweise 14-tägig.
Den Hauptteil der Edition bilden die chronologisch geordneten Wochenbriefe. Vorangestellt sind zwei Geleitworte des hannoverschen Altbischofs Horst Hirschler sowie des Vorsitzenden der Ge­sellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte und Marahrenskenners Hans Otte. Zusammen mit der Einleitung des Herausgebers umfasst dieses Präludium mit 114 Seiten beinahe schon die Stärke eines eigenständigen Bändchens und ist unbedingt le­senswert. Die Rezeption des bischöflichen Amtsnachfolgers Hirschler, der sich in vollkommen anderen Zeitläufen und Be­wandtniszusammenhängen als Marahrens befand, ist schon da­rum interes sant, weil diese Form kollegialer Beurteilung rar ist. Hirschlers einleitende Geschichtshermeneutik wirkt noch ein wenig holzschnitt­artig: »In der Regel gehen wir … mit der Fragestellung ›waren die dafür – waren die dagegen‹ heran. Wenn einer nicht so richtig dagegen war, kommt er in die Schublade für Problema­tisches. Wer Mitläufer war, ist zumeist uninteressant. Erst wenn einer zu den wirklichen Übeltätern gehörte, wird er wieder interessant.« (10) Aber in der Analyse der Briefe kommt er dann doch zu Einsichten, die für die nachfolgende Lektüre der Edition hilfreich sind: »Wo die Zeitanalyse falsch ist, läuft auch die Konkretisierung des Glaubens, mag sie theologisch noch so gut durchdacht sein, in die Irre.« (35)
Die Wochenbriefe sind kein mitlaufender Kommentar zum Zeitgeschehen. Über manche Daten und Geschehnisse, wie die »Reichskristallnacht«, ist gar nichts zu erfahren, andere, wie der Tod seines Sohnes Erich im Felde, tauchen allenfalls versteckt und chiffriert auf. Folgerichtig markiert Thomas Kück auch thematische Schwerpunkte, mit denen Marahrens sich beschäftigt hat und die sich entweder durchhalten oder in bestimmten Phasen verdichten. Dies sind für Kück: a) Das Alte Testament und die Juden, b) Die Christen jüdischer Herkunft, c) Die lutherischen Bekenntnisse, d) Staat und Kirche, e) Nationalsozialismus, f) Deutsche Christen, g) Kirchenkampf, h) Kirche und Krieg und i) Beiträge zur Erneuerung der Kirche. Der Herausgeber möchte in erster Linie eine nach wissenschaftlichen Kriterien erstellte Primärquellenedition zur Ver-fügung stellen: »Systematisch wurde ihr Inhalt [i. e. der Wochenbriefe] bisher nicht erschlossen.« (7) Darum ist die Einleitung auch nicht als hinreichender oder gar abschließender Kommentar ge­dacht; die Schwerpunkte Kücks wollen nicht als hermetisch ge­schlossenes Wahrnehmungsinstrument gelesen werden: »Diese Schwerpunkte, neben denen natürlich noch weitere denkbar sind, haben sich aus der Gesamtlektüre der Wochenbriefe ergeben. … So ergeben sich in der intensiven Beschäftigung mit allen Wochenbriefen immer wieder neue Fragen. Diese Fragen wollen die kommentierenden Schwerpunkte aufstellen. Sie wollen Probleme aufzeigen, keine abschließenden Antworten geben, auch nicht durch Sekundärliteratur, die an dieser Stelle weitgehend unberücksichtigt bleiben soll.« (51 f.)
Durch die Edition von Thomas Kück (der Superintendent in Stade ist, wo Marahrens ab 1922 bis zur Bischofswahl 1925 als Generalsuperintendent wirkte) muss weder die Geschichte des Kirchenkampfes neu geschrieben werden, noch lassen die Wochenbriefe den Bischof in einem völlig anderen Licht erscheinen. Gut erkennbar wird aber sein Amtsverständnis: »Non vi, sed verbo, nicht durch äußere Gewalt, sondern durch die Kraft des Wortes wollte er sein Amt führen.« (57) Doch werden auch die Friktionslinien in der Persönlichkeit dieses Kirchenführers durch die Vielschichtigkeit des Mediums deutlich: »Schließlich eröffneten die Briefe an vielen Stellen einen – wenn auch begrenzten – Dialog. Insofern waren sie kommunikativ. Sie wirkten wechselseitig selbstvergewissernd und zugleich meinungsbildend. Und der besondere Charakter der Wo­chenbriefe liegt gerade im Zusammenwirken dieser Eigenschaften begründet, persönlich, amtlich und brüderlich.« (114)
So bietet die lückenlose Dokumentation der Wochenbriefe eine Quellenbasis, die das Urteil des »Eigensinns« (Otte) und der »Ambivalenz« (Hirschler) von August Marahrens nachvollziehbar werden lässt. Die von Thomas Kück angestellten Beobachtungen, wie auch die Interpretationen Horst Hirschlers, bieten ein nützliches hermeneutisches Geländer für den Einstieg in dieses Terrain, dessen weiträumige Sichtung einer bloß steinbruchhaften Rezeption mit ideologischen Präjudizen wehrt.
Die Großoktavbände sind sauber gesetzt, sorgfältig gebunden und gut lesbar. Schön wäre ein Lesebändchen gewesen. Gravierender wiegt aber das Fehlen eines Orts- und Sachregisters. An seine Stelle tritt eine im Lieferumfang enthaltene CD mit einer PDF-Version des Werkes. Die Suche mit dem Acrobat-Reader funktioniert ebenso reibungs- wie lückenlos. Das ist für das wissenschaftliche Zitieren und die Überführung von Zitaten in die Sekundärliteratur praktisch und auch fehlerresistent. Doch zum einen ersetzt sie nicht das Suchen und Stöbern in einem sorgfältig angelegten Register. Und zum anderen ist die Halbwertzeit dieser bereits heute etwas angestaubten Technologie mutmaßlich kürzer, als es der – überdies auf alterungsbeständigem Papier gedruckten – Edition zu wünschen ist.