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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1361-1362

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Stadelmann-Wenz, Elke

Titel/Untertitel:

Widerständiges Verhalten und Herr­schaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 265 S. gr.8° = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-76746-2.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Die These, dass die 60er-Jahre in der DDR eine protestarme Zeit gewesen seien (25), wird in dieser Berliner Dissertation nachdrück­lich und teilweise überraschend deutlich richtiggestellt. Vorzug ist dabei ein im Vergleich etwa mit E. Neuberts engem Modell (16) weiter gefasster, durch das Stichwort »widerständiges Verhalten« definierter Begriff von Widerstand, der a) sich dem Herrschaftsanspruch der SED zu entziehen und b) ihm »etwas« entgegenzusetzen (13) umgreift. Damit wird ein Differenzraum zwischen Handlung und Verhalten einerseits und der staatlichen Reaktion darauf andererseits eröffnet. Je nach den aktuellen Parteivorgaben konnte aus einem bloßen ›Verhalten‹ ein politischer ›Akt‹ oder eine Handlung ›gemacht‹ werden, durch die politische Verfolgung konnte es aber auch tatsächlich in eine solche umschlagen – und umgekehrt. Vermeintliche Motive oder Intentionen reichen zur Definition von Widerstand ebenso wenig aus wie die bloße Perspektive von SED und MfS. Das ist eine nützliche Horizonterweiterung, die sowohl die Grenze zur gänzlichen Passivität wahrt, die situationelle Willkürlichkeit der DDR-Strafjustiz berücksichtigt als auch – entgegen der Repressionsthese (32) – die heterogenen Handlungs- und Verhaltensressourcen der DDR-Bevölkerung einzubeziehen vermag.
St.-W. wählt einen dreifachen Zugang zum Thema: widerständiges Verhalten mobilisierende Anlässe, Konfliktfelder und die politische Strafjustiz. Dadurch wird eine Analyse präsentiert, die sich abgesehen von einigen knapp skizzierten Fallbeispielen nicht vordergründig an Personen, sondern an den Strukturen und Entwicklungen des politischen Widerstands orientiert.
Als mobilisierende Anlässe werden in den 60er-Jahren zunächst der Mauerbau und das Grenzregime mit erneuten Umsiedlungen, Fluchtbewegung und Fluchthilfe betrachtet. Angesichts des kirchlichen Umgangs mit ›Republikflucht‹ (und Ausreise) als eines obsoleten Verhaltens, das der staatlichen Kriminalisierung parallel laufen konnte, wäre St.-W.s Entscheidung, die Flucht aus der DDR als Variante eines widerständigen Verhaltens anzusehen (58 f.), als Anregung anzunehmen. Als dritter mobilisierender Anlass gelten Wehrpflicht, Bausoldatenregelung und Totalverweigerung. Vierter Komplex ist die Niederschlagung des Prager Frühlings. Das Ende des Untersuchungszeitraums fällt – sachlich wohlbegründet – mit dem Ende der Ära Ulbricht 1971 zusammen.
Als zentrale Konfliktfelder folgen das bislang kaum dargestellte Verhalten von Arbeitern und Bauern in wirtschaftspolitischen und sozialen Konflikten und die Jugend »zwischen Repression und Toleranz«. Hier ist ein zunehmend schärferes Vorgehen gegen Jugendkulturen zu beobachten, das zu dem Ziel führte, eine ganze Generation (167 u. ö.) repressiv zu überwachen. Besonders die Politisierung, Kriminalisierung und teils drastische Strafverfolgung der Beat- und Hippie-Bewegung wird hier dargestellt. Dass der SED-Staat »den Generationenkonflikt in einen politischen Konflikt« verwandelt habe (234), dürfte angesichts der zuvor an vielen Stellen benannten politischen Aufladung des Jugendwiderstands in der DDR aber nur eine Seite der Medaille gewesen sein.
Die politische Strafjustiz wird mit den Schwerpunkten Strafgesetzgebung, Strafstatistik, Delikte und Haftbedingungen dargestellt. Der Freikauf politischer Häftlinge wird an den relevanten Stellen zwar jeweils erwähnt, wäre aber als lukrative Widerstands-›Produktion‹ durch SED und MfS auch eines eigenen Kapitels würdig. Eher am Rande werden auch Fälle von tatsächlicher, also vom SED-Staat nicht nur unterstellter »Spionage« diskutiert (211). Vielfach zeigt St.-W. die durchgängige Abhängigkeit der juristischen Instanzen und die Manipulation der Strafverfahren durch SED und MfS auf. Hervorzuheben ist ihre überzeugende Auseinandersetzung mit dem Versuch, den sog. »Assi-Paragraphen« (§249 StGB) zu entkontextualisieren und ihm seine politische und ideologische Zielrichtung abzusprechen (219 ff.).
Für die weitere Widerstandsforschung wäre zu bedenken, wie das Verhältnis zwischen punktuellem und personellem Widerstand bzw. dessen Verfolgung gegenüber der Majoritätsgesellschaft beschrieben werden könnte. Diese Frage drängt sich auch angesichts der überaus hohen Zahl politischer Inhaftierungen in der DDR auf.
Bemerkenswerterweise erscheint das Verhältnis Staat – Kirche nicht als eigenes Konfliktfeld in dieser Untersuchung. Religiöse Faktoren werden nur im Zusammenhang etwa mit den Bausoldaten und Totalverweigerern (81 ff.) erwähnt. Kirchenpolitische Kontexte werden bei solchen Themen wie Wehrdienst und Jugendarbeit aber nur gestreift. Das verwundert auch angesichts solch gravierender Konflikte wie beispielsweise des militanten Atheismus, der im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Beat- und Hippie-Bewegung entstandenen kirchlichen Offenen Jugendarbeit, punktueller Anlässe wie der Sprengung der Leipziger Universitätskirche oder des kirchlichen Protestes gegen die neue Verfassung 1968. Es ist durchaus verständlich, aufgrund einer notwendigen Vorentscheidung eine Auswahl zu treffen. Diese auch zu diskutieren, wäre im Interesse des Themas zugleich angemessen gewesen. Liegt dieses Manko daran, dass St.-W. meint, die SED habe »die christliche Minderheit« stets als potentiellen Gegner betrachtet (160), wo doch gerade im Untersuchungszeitraum (noch) nicht von einer christlichen Minderheit in der DDR die Rede sein kann? Ungeachtet dieser etwas unerwarteten, aber ja nicht völligen Leerstelle bietet die überdies ganz hervorragend geschriebene Studie wertvolle, teils unerwartete Ergebnisse und eine nützliche Basis für weitere Forschungen auf der Grundlage eines fruchtbar angewendeten Widerstandsbegriffs.