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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1356-1359

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Koschorke, Klaus [Ed.]

Titel/Untertitel:

Falling Walls. The Year 1989/90 as a Turn­-ing Point in the History of World Christianity. Einstürzende Mauern. Das Jahr 1989/90 als Epochenjahr in der Geschichte des Weltchristentums.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2009. 451 S. gr.8° = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika), 15. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-447-05995-4.

Rezensent:

Rudolf Mau

Dass der Zusammenbruch des Sowjetimperiums für die Christen und Kirchen in Europa eminent bedeutsam war, steht außer Frage. Gilt dies aber darüber hinaus auch für das »Weltchristentum« (World Christianity) unserer Tage? Dieser Frage widmete sich die Vierte Internationale München-Freising-Konferenz 2008. Sie liegt nahe angesichts der auffallenden Gleichzeitigkeit tiefgreifender Veränderungen auch in Afrika, Asien und Lateinamerika mit dem Mauerfall, dem Epochenjahr 1989/90. Das besondere Interesse der Konferenz galt den »Transformationen kontextueller Theologien in Reaktion auf den demokratischen Wandel der 1990er Jahre«. Die hierzu vorgelegten Einzelbeiträge des Bandes sind, wie der Herausgeber Klaus Koschorke vermerkt, als »Probebohrungen« zu verstehen, die »weiterführende Fragestellungen in global-komparatistischer Perspektive« ermöglichen sollen. Ohne Frage bezeichne jenes Epochenjahr »auch in christentumsgeschichtlicher Hinsicht eine deutliche Zäsur«, im Einzelnen freilich »unter verschiedenen Parametern« (24 f.). Je eine Reihe von Beiträgen bezieht sich auf Länder in Europa, Afrika, Asien, Lateinamerika und ein Beitrag auf die USA (31–371); fünf weitere behandeln »Übergreifende Perspektiven« (373–449). Die Vielfalt von Ereignislinien und Zugängen ergibt ein facettenreiches Bild vom gegenwärtigen Status des »Weltchristentums«, auch eine Pluralität von »Theologien«, bei denen es sich in der Regel um den je besonderen Umgang von Christen und Kirchen mit den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten handelt.
Die Beiträge zu Europa betreffen die DDR, Polen, Rumänien und (am Exempel des kirchlichen Umgangs mit Bischof Ordass) auch Ungarn. Unter dem Titel »The End of the ›Kirche im Sozialismus‹« schildert Katharina Kunter, Karlsruhe, den christlich-kirchlichen Beitrag zur Friedlichen Revolution in der DDR. Hier bleibt allerdings das Votum für die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 als »Turning Point« (weil da »from one day to another« der Übergang »from dictatorship [!??] to democracy« erfolgt sei; 38) unverständlich. Denn schon ein Jahr zuvor, mit der großen friedlichen Demonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989, war für jedermann spürbar die Macht der Diktatur, der Bann der Angst, gebrochen, und fortan wurde Zug um Zug Demokratie realisiert. Dieter Bingen, Darmstadt, beschreibt den »Beitrag der katholischen Kirche zum demokratischen Wandel in Polen«: die Bedeutung des polnischen Papstes für die Systemerosion, das Wirken der katholischen Kirche zunächst als »überforderter Moderator einer ›selbstbegrenzten Revolution‹«, »nach dem Solidarnos´c´-Sommer« auch wieder als »Sprecher der Nation«. Er verweist auch auf das »Un­wohlsein« der Kirche in »Demokratie und Wertepluralismus«. Radu Preda, Cluj-Napoca, schildert das dramatisch-blutige »Jahr 1989 in der Ge­schichte und im Bewusstsein der rumänischen Gesellschaft«, beschreibt kirchliche Verstrickungen in die Ceausescu-Diktatur und die einzigartige Bedeutung des reformierten Pfarrers Tökes für deren Sturz. Doch »zwei Jahrzehnte Postkommunismus«, die zähe Machtbehauptung der alten Eliten, verzögerten lange eine »Aufarbeitung der jüngsten Geschichte« (74).
Das Apartheid-Regime in Südafrika, das sich als antikommu­nis­tisches Bollwerk verstand, fiel zeitgleich mit der Berliner Mauer. James [oder Jim?, so 450!] Cochrane, Kapstadt, schildert die hier jetzt einsetzende Neuformierung der »politischen Ökonomie des Heiligen«. Kennzeichnend für die neue Situation sind Untertitel wie »Christianity as a Shopping Mall« oder »Satan in the Public Square« (108 f.). Für Äthiopien, wo 1991 die sozialistische Militärdiktatur endete, beschreibt Jörg Haustein, Heidelberg, wie unterschiedlich die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die lutherische Mekane Yesus-Kirche und die pfingstliche Full Gospel Believers Church mit dem politischen Umbruch umgingen. Als »Wendepunkt in der Geschichte des afrikanischen Christentums« (154) bestätigt Paul Gifford, London, das Jahr 1989 im Hinblick auf den »Zweiten Befreiungskampf« 1989–93, der zum Zusammenbruch mehrerer Ein-Parteien-Regime im subsaharischen Afrika führte. Die traditionellen Kirchen, beim Kampf gegen den europäischen Kolonialismus noch ganz zurückhaltend, wirkten jetzt als »Dienstleister« und »Entwicklungsagenten«; die neu entstehenden pentekostalen Kirchen wurden kaum aktiv. Kevin Word, Leeds, schildert die Stellung der afrikanischen Kirchen zu den neuen Herausforderungen (Globalisierung, christliches und muslimisches Afrika, Homosexualitätsdebatte in der Anglikanischen Gemeinschaft) und verweist auf den zunehmenden Fundamentalismus im traditionell konservativen afrikanischen Christentum. Zum 1989 einsetzenden Umbruch in Afrika thematisiert Ogbu U. Kalu (†) den »Anfang der Armut«.
Korea, China und Vietnam stehen für asiatische Aspekte des Epochen-Themas. Für das (süd-)koreanische Christentum schildert Anselm K. Min, Claremont (USA), die beschleunigte Globalisierung als Herausforderung an die alles durchdringenden lokal-kulturellen Bindungen (die »Koreanische Krankheit« des »tribal identity syndrome«; 206 f.). Zum Tian’anmen-Massaker in Peking bietet Roman Malek, Bonn, eine »Phänomenologie des Jahres 1989« und zeigt Interdependenzen zwischen dem Geschehen dort und in Europa. Peter C. Phan, Washington/DC, schildert den Weg der ka­tholischen Kirche in Vietnam unter kommunistischer Herrschaft. Seit dem Aufruf der Bischöfe von 1980 »Living the Gospel in the Midst of the People« habe sie viel für die Entwicklung des Landes getan, in dem seit 1990 Religionsfreiheit besteht.
In Lateinamerika gab es eine »erstaunliche Synchronizität von Transformationsprozessen« im Epochenjahr (20). Auf Kuba freilich blieb Fidel Castro starr beim alten Kurs, so dass, wie Michael Huhn, Essen, zeigt, erst der Papstbesuch 1998 zum einschneidenden Ereignis wurde. Johannes Meier, Mainz, beschreibt den Transformationsprozess in den zentralamerikanischen Staaten um 1990; Veit Strassner, Mainz, thematisiert »Markt, Menschenrechte und Moral« als Herausforderungen für die Südstaaten Südamerikas. Rudolph von Sinner, Sao Leopoldo, betont für den Übergang Brasiliens zur Demokratie die Bedeutung der ersten direkten Präsidentenwahl 1989. Sergio Silva, Santiago de Chile, beschreibt, wie sich die Befreiungstheologie unter den Herausforderungen der 1990er Jahre veränderte. Spezifische Reaktionen in den USA auf das Epochenjahr benennt Michael Hochgeschwender, München: Von dort gingen zahllose »short term missionaries« nach Afrika und Asien aus, die besonders aus dem Bereich von Rechtsevangelikalen, Neofundamentalisten und Pfingstsekten kamen.
Im ersten Beitrag zu »übergreifenden Perspektiven« zeigt Chris­tine Lienemann-Perrin, Basel, an Südkorea und Südafrika für die 1990er Jahre den Wechsel von befreiungstheologischen Ansätzen zu einer »Theologie der Bürgerschaft«. Wolfgang Lienemann, Bern, erweitert Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung im Hinblick auf Selbstverständnisse und Rollen von Kirche und bietet hierzu eine ausdifferenzierte Typologie. Allan Anderson, Birmingham, schildert den Wandel der weltweiten Religionsdemographie durch die gewaltige Ausbreitung pentekostaler Christentumsformen vor allem in Südamerika, Afrika und Asien. Viggo Mortensen, Aarhus, reflektiert unter dem Motto »From Visible Unity to Reconciled Diversity« die Transformation der Ökumenischen Bewegung in den 1990er Jahren vom »Konsens«- zum »Profil«-Modell (440) – doch ohne dies an den apostrophierten »Lutheran Churches« zu konkretisieren. Am Schluss be­stätigt ein Kommentar von Hartmut Lehmann die Gewichtung des Zusam­menbruchs des Sowjetimperiums, des politischen Großereignisses von 1989/90, als »Wendepunkt auch in der Geschichte des Weltchristentums« (448).
Das Konferenz-Projekt einer »Geschichte des Weltchristentums« (alias »Weltgeschichte des Christentums«; 27) hat mit dem vorliegenden Band interessante, aber auch recht disparate Beiträge erbracht. So führt die Fokussierung auf 1989/90 als global wirksamen »Mauerfall« nur partiell über eine Buchbindersynthese hinaus. Hilfen wie Abkürzungs-, Personen- und Sachregister werden nicht geboten. Der Wandel theologischer Orientierungen im Zusammenhang gesellschaftlicher und religiöser Transformationen wäre vielfach noch zu verdeutlichen.