Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1354-1355

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lutterbach, Hubertus

Titel/Untertitel:

Das Täuferreich von Münster. Wurzeln und Eigenarten eines religiösen Aufbruchs.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2008. 208 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-402-12743-8.

Rezensent:

Jörg Trelenberg

Hubertus Lutterbach, seit 2000 Professor für Christentums- und Kulturgeschichte an der Universität Essen, veröffentlicht mit der 208 Seiten umfassenden Monographie die »Kurzfassung« seiner (zweiten) Dissertation, die im Sommer 2007 im Fach Mittelalter­liche Geschichte an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden angenommen wurde.
In einem ersten Teil (11–95) zeichnet L. in umfassenden Zügen den Weg zum Münsteraner Täuferreich nach, indem er den äußeren Gang der Geschichte beschreibt, aus den spätmittelalterlichen Wurzeln heraus erklärt und insbesondere die unterschiedlichen Frömmigkeits- und Heiligungskonzepte des katholischen, luthe­-rischen und täuferischen Lebens in der Stadt Münster darstellt und vergleicht. Die Arbeit orientiert sich an den bekannten zeitgenös­sischen Quellen, wertet die sehr umfangreiche Sekundärliteratur zum Thema aus und bezieht auch neuere Ansätze der Täufer-Interpretation in die eigene Darstellung ein.
Nach dem allgemeinen Überblick folgt ein zweiter Teil (98–166), der speziell die Täuferherrschaft in Münster fokussiert und unter ausgewählten Gesichtspunkten als eine bewusste Abkehr vom katholisch-altgläubigen und lutherisch-neugläubigen »Sakralisierungskonzept«, d. h. eine in unterschiedlichen theologischen Be­reichen (Taufe, Abendmahlsauffassung, Schriftverständnis, Ge­meinde-Ideal) erneuerte Grenzziehung zwischen dem jeweils Heiligen und Profanen deutet. Im Zuge dieser Gesamtinterpretation werden zum Teil innovative, die Forschung weiterführende »Entdeckungen« präsentiert: Zum Beispiel wird der Versuch unternommen, die rituelle Taufpraxis der Münsteraner Täufer aus dem anonymen »Ketter-Bichtbok« und anderen Quellen zu rekonstruieren. Der mutmaßliche Abendmahlsritus der Münsteraner Täufergemeinde wird aus dem Augenzeugenbericht Gresbecks und der Restitutionsschrift Rothmanns eruiert. Auch werden wichtige Hinweise auf die bislang (genauer: bis zum Erscheinungsdatum des Buches) kaum untersuchte Art und Weise der täuferischen Schriftauslegung gegeben.
Eine anregende kulturgeschichtliche und gleichzeitig theologisch-systematische Deutung vermag das zusammenfassende Schlusskapitel unter dem Titel »Das Täuferreich – Rückschritt oder Wegbereiter der Moderne?« zu geben. L. fragt, wie sich die Ausrichtung des Königreichs von Zion im Überschneidungsbereich von Mittelalter und Moderne lokalisieren und charakterisieren lässt. Er stellt heraus, dass das kurze lutherisch-neugläubige Intermezzo in der Stadtgeschichte Münsters gegenüber dem mittelalterlich-altgläubigen Heiligkeitskonzept zu einer verstärkten »Individualisierung, Verinnerlichung und Ethisierung von Heiligkeit« (164) führte, dass diese Neuansätze in der darauf folgenden Phase der Täuferherrschaft zwar zunächst weitergeführt und weiterentwickelt, letztlich aber – in der Endphase des Königreichs – nicht durchgehalten werden konnten. Das Täuferreich sei insofern als Rück­schritt zu werten, als es mit fortschreitender Entwicklung an eine – ehemals für das altgläubige Sakralisierungskonzept konstitutive – »hierarchische Abstufung im Grade der Heiligkeit« (159) anknüpfe: Mit dem autoritativen Auftreten täuferischer Propheten seien erneut besonders »heilige« Menschen als Mittlerinstanzen etabliert worden; eine erneute gegenständlich-dinglich geprägte Frömmigkeit habe sich in der Festsetzung heiliger Orte und Zeiten, zum Teil auch konkreter »Materialien« manifestiert; die politische Ordnung der Stadt habe unter den Zwölf Ältesten und erst recht im abschließenden Königtum eine erneute sakrale Rückbindung erfahren; die jüngst erreichten gesellschaftlichen Freiheiten der Frau seien zugunsten einer erneuten und verschärften Männerherrschaft zurückgefahren worden; schließlich sei ein Rückfall in überkommene Sakralität darin zu sehen, dass eine innerstädtische religiöse Einheit mehr als jemals zuvor »gewaltsam-heiligend«, d. h. durch Zwangstaufe, Exil oder Mord, hergestellt wurde.
L.s Dissertation verdient es zweifellos, nicht nur von Fachleuten, sondern auch von einem breiteren Lesepublikum zur Kenntnis genommen zu werden.