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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1350-1354

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kolb, Robert [Ed.]

Titel/Untertitel:

Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2008. IX, 531 S. gr.8° = Brill’s Companions to the Christian Tradition, 11. Geb. EUR 130,00. ISBN 978-90-04-16641-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

In den letzten Jahren hat der Begriff der Konfessionskultur samt seinen Derivaten wie konfessionelle Kultur, konfessionelle Prägungen etc. Konjunktur. Bisher wurde dieser Terminus nur in Ansätzen präzisiert. Er thematisiert, wie die Menschen des 16. und 17. Jh.s lernten, mit den Bedingungen der Glaubensspaltung und Konfessionalisierung zu leben sowie ihr alltägliches Leben und dessen Reflexion daran auszurichten. Ein wenig enger, als es die gegenwärtige von forschungsstrategischen Überlegungen dominierte Literatur tut, lässt sich unter dem Begriff der Konfessionskultur der Bestand an längerfristig manifesten, bekenntnismäßig geprägten Verhaltensweisen und Habitusformen sowie deren kulturelle Rahmenbedingungen verstehen. Der Terminus beschreibt also einerseits das komplexe Miteinander von konfessionellen Normen und deren performativer Umsetzung, unter anderem im Hinblick auf die Frömmigkeitspraxis. Andererseits erfasst er die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und standesspezifischen Gegebenheiten, welche den Ausbreitungs- und Akzeptanzrahmen konfessionell beeinflussten Verhaltens einschränkten und modifizierten. Faktisch wurden damit in der konfessionskulturellen Praxis die Limitationen der obrigkeitlich »verordneten« Verhaltensmuster aufgeweicht. Die sich klärenden dogmatischen Inhalte – die theologischen Propria – kamen nicht immer hinreichend präzise zum Ausdruck.
Daher entstanden einerseits konfessionsspezifische Verhaltensmuster, andererseits konfessionell unspezifische, »hybride« Mischformen und Identitäten. Hinzu kommt, dass der obrigkeitliche Normierungsprozess für die Mehrheit der zur Homogenität ge­drängten Gesellschaft vielfach unvermittelt und nicht immer nachvollziehbar verlief. Wege der unversöhnlichen Polarisierung standen stets auch Pfaden des konfessionellen Kompromisses gegenüber. Die Erfahrung konfessioneller Differenz führte dabei nicht zu Toleranz im modernen Sinne, sondern stiftete zum Teil schroff abgrenzende und im Hinblick der individuellen Antwort auf die theologische Wahrheitsfrage auch verwerfende konfessionelle Identitäten. Es gab somit konfessionsspezifische Selbst- und Fremderfahrungen sowie Erwartungshaltungen. Diese wurden individuell oder gruppenspezifisch lokal oder regional verschieden wahrgenommen, verarbeitet und gedeutet. Sie führten zu ganz unterschiedlichen, oft an auffälligen Äußerlichkeiten der Menschen festgemachten Sinnstiftungen. Die Forschungen zu Phänomenen der Konfessionskultur fragen wiederum nach der Mehrdimensionalität dieses kulturhistorischen Paradigmas.
Das Konzept der Konfessionskultur beschreibt Phänomene, die sich in allen »Konfessionsgesellschaften« manifestierten. Sie entwickelten sich auf mannigfache Weise verschieden und nirgendwo monadenhaft verschlossen. Das methodisch noch nicht sehr weit reflektierte Forschungskonzept der Konfessionskultur betont im Unterschied zum Konfessionalisierungsparadigma, dass nicht nur obrigkeitliche Lenkung der jeweiligen konfessionellen Kulturpraktiken vorliegen muss. Auch konnten die Grenzen einer Konfessionskultur durchaus quer zu geographischen, topographischen, politischen und gesellschaftlichen (ständischen, sozialräumlichen) Grenzen verlaufen. Weiterhin richtet dieser Forschungsansatz sei­nen Blick konsequent auf die Binnenstrukturen, Traditionen und Orientierungsbedürfnisse der jeweils konfessionsspezifisch ge­präg­ten Gruppen. Zugleich kommen Pluralisierung und Differenzierung sowie variierende Erfahrungen und Erwartungshorizonte innerhalb des Großraums einer Konfession stärker in den Blick. Der Terminus Konfessionskultur lenkt die Perspektive schließlich auch auf das Undogmatische und Inhomogene, das Indifferente und Wi­derständige, etwa auf die »konfessionellen Niemandsländer«. Folglich werden nicht nur die kommunikativen Prozesse der Normfindung und Normbegründung, sondern auch diejenigen der versuchten Normdurchsetzung und Normverhinderung sichtbar.
Der von dem Amerikaner Robert Kolb, Systematischer Theologe am Concordia Seminary in St. Louis, herausgegebene Sammelband enthält zehn handbuchartige Beiträge zu diesem neu zu erschließenden Thema der nach-reformatorischen Zeit des 16. und 17. Jh.s. Er erscheint in einer großdimensionierten Reihe des niederländischen Brill-Verlages und verdankt sich sicherlich auch ökonomischen Erwägungen sowie den Bemühungen, an den gegenwärtigen Trends der nach neuen Ufern aufbrechenden Forschung zur zweiten Hälfte des 16. und 17. Jh.s zu partizipieren. Nur so lässt sich die etwas gezwungene Verbindung von Luther- und Reformationsforschung mit dem, was dann Konfessionalisierung bzw. nach-reformatorische Entstehung von Konfessionskulturen ge­nannt wird, erklären.
Dies ist freilich nicht die einzige Inkonsistenz des ansprechend aufgemachten Bandes. Obwohl einige deutsche oder mit der europäischen Forschung eng vertraute Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Band mitgewirkt haben, wird das, was im deutschen Kontext häufiger »lutherische Konfessionskultur« genannt wird, hier als exklusiv ›kirchliche‹ Kultur vorgestellt. Die seit den 90er Jahren des vergangenen Jh.s entworfenen konzeptionellen Überlegungen zur »lutherischen Konfessionskultur« spielen in der Zusammenstellung leider keine Rolle. Kolb gibt zunächst eine knappe Einleitung samt durchaus erschöpfender Übersicht über die Forschungslage. Er geht davon aus, dass Luthers Wiederent­deckung der antipelagianisch zugespitzten Rechtfertigungsbotschaft des Neuen Testaments, insonderheit des Apostels Paulus, das menschliche Gottesverhältnis entscheidend revidiert. Diese Revision hat sich nach Kolb in Weltsicht und soziokultureller Praxis der sich sukzessive etablierenden lutherischen Gruppen, Verbände und Institutionen sowie der von ihnen zunehmend ge­prägten politischen Gemeinden niedergeschlagen. Vor dem Hin­tergrund der primär die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft analysierenden Konfessionalisierungsdebatte zielt Kolb nun darauf, die Kirche als selbständig, sich zunehmend von den säkularen Autoritäten emanzipierende Institution mit hohem Potential zur Gestaltung einer konfessionellen Leitkultur zu zeichnen: »The churches of specific cultures have influenced and sometimes even transformed these larger cultures in specific ways, and at the same time the cultures in which the church exists have influenced and transformed the beliefs and praktices of the church. These essays reflext some commen, core cultural charakteristics and a broad field of diversity within the ecclesiastical cutures of Lutheran lands at various social levels during the period of Confessionalization.« (5)
Kolb akzentuiert also, entgegen neueren sozial- und kulturgeschichtlich angelegten kirchengeschichtlichen Forschungen zu »Konfession« und »Kultur«, einen konsequent am Bekenntnistext (Confessio) orientierten Ansatz. Dieser lässt nicht nur systemimmanent den Bekenntnistext an die Stelle eines kontextorientierten und entsprechend vielfältig ausgelegten Schriftzeugnisses treten, sondern setzt sich auch dem Vorwurf aus, einem dogmatischen Positivismus zu huldigen, der die historische Methode kontrolliert. Kolb geht – sich des methodisch-heuristischen Unterschieds etwa zu Thomas Kaufmann durchaus bewusst (5, mit Anm. 11) – davon aus, dass es Luthers Schöpfungslehre und die Theologie des Wittenberger Kreises sowie deren Bibelauslegungen gewesen seien, die in der kulturellen Lebenswelt des Luthertums Früchte getragen hätten. Gegenüber einer bis vor einem Vierteljahrhundert tonangebenden primär dogmen- und theologiegeschichtlich ausgerichteten Forschung zum älteren Luthertum belegen die Beiträge dieses Sammelbandes deutlich eine Akzentverschiebung innerhalb der Forschung. Entgegen den sich aufgrund dieser Forschung ergebenden oder auch nur befürchteten Nivellierungstendenzen steht für Kolb unverrückbar fest, dass der nationale und sprachliche Grenzen überschreitenden lutherischen »sub-culture« eine ge­meinsame Sicht Gottes und der Menschheit zugrunde gelegen habe, die zwischen 1517 und 1560 in Wittenberg ausgearbeitet wurde und für mehr als anderthalb Jahrhunderte wirkmächtig geblieben sei.
Der Band ist weitgehend systematisch gegliedert und schreitet dem Muster Bekenntnis, Ausbildung, Predigt, Katechetik, Spiritualität, Volksfrömmigkeit, soziales Engagement, Kirche und Staat, sowie der Ausbreitung des Luthertums in Skandinavien und den Baltischen Ländern und in Ungarn ab. Diese Auswahl ist nachvollziehbar, lässt jedoch erkennen, dass insbesondere die aus den Geschichts-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften an die Reformationsforschung herangetragenen Fragen nicht aufgenommen werden. Vielmehr scheint ein weitgehend geschlossener Kreis von Vertretern eines Bekenntnisluthertums – oder an ihm Interessierten – angesprochen werden zu sollen. Damit vertut der Band eine wichtige Chance zur Aufnahme des interdisziplinären Gesprächs und der Wahrnehmung der Theologie in den (reformations-)his­toriographischen Diskursen.
Den Anfang machen zwei Aufsätze zur lutherischen Kirchen- und Universitätstheologie (Irene Dingel: The Culture of Conflict in the Controversies Leading to the Formula of Concord [1548–1580], 15–64; Kenneth G. Appold: Academic Life and Teaching in Post-Reformation Lutheranism, 65–111). Die in Mainz im Institut für Europäische Geschichte tätige Reformationshistorikerin Irene Dingel bietet aus ihren langjährigen Forschungen heraus einen Überblick zu den innerprotestantischen Streitigkeiten, der als Zusammenfassung auch dem anglo-amerikanischen Lehrbetrieb durchaus entgegenkommen dürfte. Kenneth Appold, Historiker mit langer deutscher Lehr- und Forschungserfahrung, jetzt in Princeton lehrend, bietet eine zuverlässige Darstellung des akade­mischen Lebens in lutherischen Universitäten. Ein bemerkenswertes Ergebnis seiner Untersuchung ist die Akzentuierung der weitgehenden Unabhängigkeit der akademischen Theologen, die sich nicht gleichsam selbstverständlich in den einer homogenen Konfessionskultur zuarbeitenden Dienst ihrer Obrigkeiten stellten.
Die nächsten Beiträge analysieren die vorstehend genannten Niederschlagsfelder konfessionskultureller Aktivitäten der akademisch gebildeten Eliten. Ob und in welchem Maße die zumeist normativen oder für den Druck zugespitzt ihren jeweiligen Kontexten enthobenen Druckwerke das Ausmaß der Manifestation konfessioneller Charakteristik dokumentieren, wird nicht einmal ansatzweise diskutiert. Auch methodisch bleiben die meisten Beiträge hier sehr quellenfokussiert und argumentieren weitgehend theologie- und konfessionsimmanent. Die in Minneapolis/St. Paul tätige Mary Jane Haemig und Robert Kolb (Preaching in Lutheran Pulpits in the Age of Confessionalisation, 117–157) untersuchen die lutherische Predigt auf der Basis der Predigtpostillen. Hier wäre die Gegenprobe aufgrund populärer Zeugnisse dringend notwendig, um zu ergründen, inwiefern das homiletische Bemühen denn nun tatsächlich Früchte zeigt. Gerhard Bode aus dem Concordia Seminary in St. Louis (Instruction of the Christian Faith by Lutherans after Luther, 159–204) wendet sich der konfessionellen Katechetik zu. Allerdings geht er zwar auf die gedruckten Katechismen, nicht aber auf deren Wirkung und die Ausbildung einer konfessionsspezifischen Vermittlung ein. Christoph Boyd Brown aus Bos­ton/Mass. (Devotional Life in Hymns, Liturgy, Music, and Prayer, 205–258) untersucht das konfessionelle Liedgut und die es aufnehmende Gebets­praxis. Auch dieser Beitrag wird leider nicht musikologisch oder musiksoziologisch zurückgebunden. Es wird nicht erkennbar, inwieweit die Lieder tatsächlich Frömmigkeit widerspiegeln oder dem obrigkeitlich sanktionierten, kirchlichen konfessionellen Homogenisierungsbemühen entspringen. Robert Chrisman (The Pulpit and the Pew: Shaping Popular Piety in the Late Reformation, 259–304), derzeit in Decatur/IO am Lutheran College tätig, greift auf Ergebnisse seiner in Tuscon/AZ promovierten Arbeit über die lutherisch-orthodoxen Auseinandersetzungen zur Erbsündenlehre in Mansfeld zurück. Er hat noch am stärksten Bezüge zu sozialgeschichtlichen Fragestellungen und Quellenbeständen.
Die bisher aufgeführten Beiträge betonen sehr die bruchlose Kontinuität der Ansätze Luthers zu der sich auf ihn berufenden Wirkungsgeschichte. Die Frage, ob dieses Ergebnis nicht auch durch die verwendete Quellenauswahl und die hermeneutischen Vorentscheidungen ihrer Interpreten provoziert wird, ist nicht diskutiert worden. Die Aufsätze von Susan Boettcher (The Social Impact of the Lutheran Reformation in Germany, 305–360) und Robert Friedeburg (Church and State in Lutheran Lands, 1550–1675, 361–410) brechen aus dieser Phalanx aus. Sie bieten differenzierte sozial-, gesellschafts- und politikgeschichtliche Manifestationen des Luthertums in Bezug auf die politischen und sozialen Lebenswelten. Boettchers Beitrag nimmt dabei die in den letzten Jahren verstärkte Forschung zur sozial-karitativen Dimension der Reformation nur in Ansätzen auf, bietet gleichwohl einen sehr problemorientierten Forschungsüberblick und erweitert so entscheidend das Spektrum der bisher rezipierten Literatur in interdisziplinärer Perspektive. Friedeburg analysiert zahlreiche Rechtstexte und verbleibt mit ihnen erneut stark im normativen Quellenmaterial. Gleichwohl bietet auch er etliche weiter zu differenzierende Ausblicke in die verfassungsrechtliche und territorialgeschichtliche Dimension der Fragestellung.
Die beiden letzten Aufsätze des Sammelbandes weiten abschließend den Blick in den nordosteuropäischen Raum: Eric Lund (Nordic and Baltic Lutheranism, 411–454) bietet einen knappen, gleichwohl informativen Überblick zu Skandinavien und dem Baltikum. David Daniel (Lutheranism in the Kingdom of Hungary, 455–507) trägt Ähnliches zu Ungarn vor. Das Auswahlprinzip dieser beiden Beiträge ist nicht schlüssig und kaum nachvollziehbar. Hat es in anderen europäischen Ländern keine Manifestationen des Luthertums gegeben? Und wenn ja, warum nicht? Weder werden neuere Methoden der historischen Geographie thematisiert noch ihre bisher sehr eklektischen Verbindungen zur Reformationsgeschichte aufgewiesen. Im Grunde wäre für diese wichtige Fragestellung ein weiterer Band der Reihe Brill’s Companions to the Christian Tradition zu wünschen. Eine Liste von »Names and Dates of the People in the Lutheran Story« am Schluss bleibt ebenfalls in ihren Auswahlkriterien undeutlich.
Der Band zeichnet eine wichtige Dimension der bisherigen Forschungen zur konfessionellen Kultur des Luthertums nach. Er bedarf jedoch vielfältiger methodischer, quellenmäßiger und thematischer Ergänzungen. Insofern bleibt zu hoffen, dass er intensiv rezipiert wird und zur weiteren Forschung beiträgt. Ob er sich als Handbuch zum Luthertum des konfessionellen Zeitalters eignet, müssen die Lehrenden des Fachs entscheiden. Für jene, die eine bekenntnisorientierte Darstellung bevorzugen, wird er sicher zum unentbehrlichen Begleiter avancieren.