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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

163–165

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kaminsky, Udo

Titel/Untertitel:

Zwangssterilisation und "Euthanasie" im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933–1945.

Verlag:

Köln: Rheinland-Verlag 1995. X, 779 S. 8° = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 116. Pp. DM 49,-. ISBN: 3-7927-1521-X.

Rezensent:

Kurt Nowak

1985 veröffentlichte die Rheinische Landessynode ihre "Erklärung zur Zwangssterilisierung, Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens und medizinischen Versuchen an Menschen unter dem Nationalsozialismus". Ein Arbeitskreis unter Leitung von Jürgen Seim (Neuwied) brachte den Themenkreis in die Erwachsenen- und Fortbildungsarbeit für Mitarbeiter der Kirche ein. Eine auf die Rheinprovinz bezogene historisch-empirische Aufarbeitung der Geschehnisse fehlte noch. 1989 erhielt der junge Historiker Udo Kaminsky von der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem Diakonischen Werk den Auftrag, eine Dokumentation zu erarbeiten. K. weitete den Auftrag zu einer umfangreichen Monographie aus. 1994 wurde sie an der Gesamthochschule Essen als Dissertation angenommen (Gutachter: Dirk Blasius; Dan Diner). Das hier zu besprechende Werk ist die um einen Anhang von 88 (bisher zumeist unveröffentlichten) Dokumenten erweiterte Promotionsschrift. Ihr methodisches Anliegen besteht in der Integration von Sozialgeschichte, Diakoniegeschichte und Regionalgeschichte.

Gegliedert ist die Arbeit in fünf Kapitel. Zu Beginn skizziert der Vf. "Die Entwicklung der Rheinischen Inneren Mission bis zum Ende des Ersten Weltkriegs" (Kap. 1). Sodann schildert er "Die Innere Mission im Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik" (Kap. 2). Den Kern seiner Untersuchung stellen die Studien "Innere Mission und Rassenhygiene in der Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates und im NS-Staat" (Kap. 3) und "Die Konfrontation der Rheinprovinz mit den Krankenmorden am Beispiel der Einrichtungen der Rheinischen Inneren Mission" (Kap. 4) dar. In einer thesenartigen "Zusammenfassung" resümiert der Vf. seine Ergebnisse (Kap. 5). Der "Anhang" (530-752) besteht aus Tabellen, Kartenskizzen (die Bezeichnung "Abbildungen" führt in die falsche Richtung), Quellen- und Literaturverzeichnis, Dokumenten und ausführlichem Register. Geht man über kleinere technische Versehen hinweg (vgl. z. B. 6, Anm. 26), bezeugt die Studie auch in den Formalia einen hohen Arbeitsaufwand.

In den letzten anderthalb Jahrzehnten sind die Forschungen zur nationalsozialistischen Sterilisationspraxis und zu den Krankenmorden breitflächig vorangetrieben worden. Die Ereigniszusammenhänge können i. w. als geklärt gelten, obschon die Forschungslandschaft durch unterschiedliche Deutungsansätze gespalten ist. Das ausführliche Literaturverzeichnis des Vf.s legt vom Reichtum der Forschung Zeugnis ab. Ein anderer Indikator ist die Bibliographie von Christoph Beck (Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung "lebensunwerten Lebens". Eine Bibliographie zum Umgang mit behinderten Menschen im "Dritten Reich" ­ und heute. 1992; erw. Neuausgabe Bonn 1995). Auch die Geschichtsschreibung zur Diakonie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich entwickelte sich in den letzten Jahren stürmisch.

Dies zu erwähnen scheint notwendig, um auf eine Schwierigkeit des Vf.s aufmerksam zu machen. Außerhalb seines geographischen Einzugsfeldes, der Rheinprovinz, befindet er sich in der Verlegenheit, Bekanntes lediglich repetieren, im besten Fall geringfügig akzentuieren zu können. Was der Leser, um nur diese Beispiele zu nennen, über die Entwicklung der Diakonie in der Weimarer Republik, über die Haltung der Inneren Mission zum Sterilisationsgesetz sowie über die Krankenmordaktionen dargeboten bekommt, sind Synthesen aus der Literatur. Ihre Anreicherung mit rheinischen Aktenfunden ändert am Gesamteindruck nicht viel. Fairerweise ist anzuerkennen, daß der Vf. bei seinen Untersuchungen zur Rheinprovinz auf Kontextualisierung nicht verzichten konnte. Mußte er dabei aber so viel Wasser ins Meer schütten? M. E. wäre der Forschung besser gedient gewesen, wenn der Vf. sich klar auf die Rheinprovinz konzentriert hätte. Daß regionalgeschichtliche Untersuchungen mit ihrem "kleinteiligen" Charakter den Blick auf die Gesamtzusammenhänge nicht zu verstellen brauchen, darf als erwiesen gelten. Sogar lokal- und anstaltsgeschichtliche Studien zeigten bereits, wie sich Gesamtkontext und Teilperspektiven ohne wechselweise Verkürzung zueinander ins Verhältnis setzen lassen. Wegen der allzu extensiven repetitiven Elemente muß sich der Vf. die Frage nach der Originalität und dem Innovationswert von größeren Passagen seiner Studie gefallen lassen.

Auch die Rheinprovinz ist kirchen- und diakoniegeschichtlich nicht mehr völlig unbeackert. Gleichwohl lag hier das eigentliche Neuland. Dem Vf. ist auf der Regionalebene eine sorgsame und umfangreiche Arbeit an den kirchlichen und staatlichen Quellen zu bescheinigen. "Angesichts des zum Teil trostlosen Zustandes des Archivwesens im Bereich der rheinischen Diakonie waren dabei auch erste archivpflegerische Eingriffe notwendig, um Akten vor Verfall und Vernichtung zu bewahren" (IX). Besonders ins Blickfeld treten die Heil- und Pflegeanstalten Waldbröl und Tannenhof, die Heilanstalt Johannisberg, die Bildungs- und Pflegeanstalt Hephata (bei Möchengladbach) und das Diakoniekrankenhaus Bad Kreuznach. Beim Themenkomplex (Zwangs-)Sterilisation ergibt sich für die evangelische Rheinprovinz ein Befund, der angesichts der Gesamtlage in der Inneren Mission nicht überrascht: eine "insgesamt... zustimmende Haltung" (292). Was die Krankenmorde angeht, so meint der Vf., durch seine regionale Nahsicht, "bislang unbestrittene Ereignisabläufe" relativieren und differenzieren zu können (527). So bestreitet er, daß von den Krankenmorden der Jahre 1940/41 im Altreich (sog. "Aktion T 4") ein gerader Weg zu den dezentral durchgeführten Krankenmorden der Jahre 1941-1945 führt, ohne deutlich genug zu sehen, daß er sich mit dieser Meinung lediglich in Dissens zu einer bestimmten Forschungsmeinung befindet, die durch sozialgeschichtliche Extrapolationen der Empirie geprägt ist.

Zu den wichtigsten Ergebnissen der Untersuchung gehört der Nachweis der Wahrnehmungs- und Handlungslähmungen in den rheinischen Heil- und Pflegeanstalten in der zweiten Kriegshälfte. Das Rheinland war von Luftangriffen besonders schwer betroffen. Offenbar verminderten die Kriegseinwirkungen in zunehmendem Maße Sensibilität und Engagement für die Schwächsten der Gesellschaft, zumal schon vorher in der rheinischen Diakonie ­ wie auch sonst ­ die Eindeutigkeit der theologischen und ethischen Optionen für das Lebensrecht der Kranken überlagert war vom Pragmatismus kaum noch lösbarer Interessen- und Handlungskonflikte.

Als historische Studie angelegt, setzt die Monographie von Kaminsky den Opfern der Sterilisation und der Krankenmordaktionen in der Rheinprovinz ein literarisches Denkmal. Sie ist, gerade auch dort, wo sie aus der Perspektive der wissenschaftlichen Forschung durch ihr repetitives Überangebot Schwächen erkennen läßt, ein Beitrag zur Erinnerungskultur. Die in den Gesamtkontext (Sozialgeschichte, Diakoniegeschichte) eingeflochtenen regionalhistorischen Analysen heben die Monographie auf die Ebene eines speziellen Referenzwerks.