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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1347-1350

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Führer, Werner

Titel/Untertitel:

Die Schmalkaldischen Artikel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 500 S. gr.8° = Kommentare zu Schriften Luthers, 2. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149735-3.

Rezensent:

Christopher Spehr

Sie stellen eines der zentralen Dokumente der lutherischen Reformation dar und zählen zur Bekenntnisgrundlage der evangelisch-lutherischen Kirche: die Schmalkaldischen Artikel. Daher erstaunt es, dass diese bedeutende Lutherschrift in der jüngsten Lutherforschung kaum die ihr zustehende wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Dank der vor Kurzem vorgelegten luziden Studie von Werner Führer hat sich dies jetzt grundlegend geändert. Endlich werden die Schmalkaldischen Artikel ihres theologischen Dornröschenschlafes entwunden, indem sie nicht nur in ihrem his­torischen Entstehungszusammenhang analysiert, sondern auch systematisch interpretiert und wirkungsgeschichtlich pointiert werden. Erstmals überhaupt wird die lutherische Bekenntnisschrift in Form eines Kommentars erschlossen, der als Band 2 in der von Thomas Kaufmann herausgegebenen Kommentarreihe zu Schriften Luthers zu Recht einen Ehrenplatz verdient hat.
F. eröffnet seine vorbildlich gearbeitete Studie durch eine um­fangreiche »Einleitung« (1–69), in der er die geschichtlichen und politischen Hintergründe des Schmalkaldischen Bundes ebenso skizziert wie die Entstehungsgeschichte des seit ca. 1553 unter dem Namen »Schmalkaldische Artikel« offiziell firmierenden Bekenntnisses. Dabei ruft er in Erinnerung, dass der unmittelbare kirchenpolitische Abfassungsanlass das von Papst Paul III. nach Mantua für den 23. Mai 1537 ausgeschriebene Konzil bildete. Luthers Landesherr, der sächsische Kurfürst Johann Friedrich, ergriff im Juli 1536 die Initiative zur Klärung der Frage, in welcher Weise auf die Konzilsausschreibung zu reagieren sei, und schaltete hierfür seine Wittenberger Theologen als Gutachter ein. Anders aber als vom Kurfürsten gewünscht, plädierten die Gemeinschaftsgutachten für eine pragmatische Annahme der Konzilseinladung und lehnten ein vom Kurfürsten angeregtes protestantisches Gegenkonzil ab. Anfang Dezember forderte Johann Friedrich, Luther möge die für ihn auf einem Konzil unaufgebbaren und verhandelbaren Lehrartikel abfassen. Die Artikel sollten nach Vorstellung des Kurfürsten sodann von den übrigen Wittenberger Theologen beraten und unterzeichnet werden und zur Klärung der Bekenntnisfrage auf dem bevorstehenden Bundestag dienen. Unabhängig vom Konzilsdiskurs hatte der Kurfürst bereits zuvor Luther um ein persönliches Testament über den evangelischen Glauben gebeten. Wie F. betont, dürfte die kurfürstliche Bitte durch den besorgniserregenden Gesundheitszustand Luthers, zusätzlich aber auch durch die Meinungsverschiedenheiten unter den Wittenberger Theologen veranlasst worden sein. Am 11. Dezember erteilte der Kurfürst Luther dann offiziell den Auftrag, Artikel der christlichen Lehre als Bekenntnis und Testament abzufassen. Luther folgte dem kurfürstlichen Auftrag, verfasste innerhalb von drei Wochen die Artikel, legte sie den nach Wittenberg gerufenen führenden kursächsischen Theologen vor, ließ sie unterschreiben und übersandte sie dem Kurfürsten.
Für F. prägen die zwei Entstehungsstränge – Verhandlungsgegenstand auf einem Konzil und Testament »der Religion halben« – in gleicher Weise »die doppelte Ausrichtung der Schmalkaldischen Artikel« (23–25). Sie sind einerseits ein öffentliches Bekenntnis und ein theologisch verbindliches Lehrdokument der Wittenberger Reformation. Andererseits sind sie Luthers persönliches Zeugnis und theologisches Vermächtnis. Die Betonung der doppelten Ausrichtung, die F. sogar als »Gattungsmerkmal« bezeichnen kann, trifft m. E. den oszillierenden Charakter der Schmalkaldischen Artikel punktgenau. Die doppelte Funktion spiegelt sich auch im dreiteiligen Aufbau und in der Struktur der Artikel selbst. Im ersten Teil behandelt Luther die in einem Konzil unstrittigen Artikel (I Der dreieinige Gott), im zweiten die gegensätzlichen und nicht verhandlungsfähigen Artikel (II Amt und Werk Jesu Christi) und im dritten die Artikel, über die verhandelt werden kann (III Heilsmittel und Kirche).
Sodann zeigt F. die »Wechselbeziehungen zwischen der Wittenberger Theologie und den Schmalkaldischen Artikeln« auf (25–44) und zeichnet das Schicksal der Artikel auf dem Schmalkaldener Bundestag vom Februar 1537 nach (44–59). Nicht zuletzt durch eine »Intrige« Melanchthons – er informierte Philipp von Hessen über Luthers »etwas heftig gestalt[en]« Abendmahlsartikel – (47.55) wurde der kursächsische Plan vereitelt, Luthers Bekenntnis dem Bundestag als neue Bündnisgrundlage vorzulegen. Stattdessen einigten sich die Politiker auf eine Durchsicht der Confessio Augustana und Akzeptanz der Wittenberger Konkordie. Weil die Bundesgenossen beschlossen, nicht am Konzil teilzunehmen, hatte sich die ursprüngliche Aufgabe der Artikel zudem erledigt. Folglich wurden Luthers Artikel nicht durch den Bundestag rezipiert, gleichwohl aber durch zahlreiche anwesende Theologen unterzeichnet, so dass das Dokument mit Recht als »Schmalkaldische Artikel« bezeichnet werden kann. Hinweise zur Publizierung der Artikel im Jahr 1538 runden F.s lesenswerte »Einleitung« ab.
Der umsichtigen »Kommentierung des Textes« gilt F.s Hauptinteresse (71–416). Weil Luther seine Artikel zwar in drei Teile ge­gliedert, aber nicht konsequent durchgezählt hat, nimmt F. eine Gliederung der mit ASm (Articuli Smalcaldici) abgekürzten Lehrpunkte vor, an der sich die zukünftige Forschung orientieren sollte (68 f.). In der Textwiedergabe folgt F. zeilengenau der im 50. Band der Weimarer Ausgabe abgedruckten Originalhandschrift von 1536 mit den entsprechenden Ergänzungen des Erstdruckes von 1538 ( WA 50; 192–254). Der jeweils kursiv gesetzte Artikel wird durch einen textkritischen Apparat erläutert, dem sich die Einzelinterpretationen anschließen. Getragen wird die Erläuterung von der Einsicht, dass Luther in den ASm »die Suffizienz und Klarheit der Heiligen Schrift in der Heilsfrage« voraussetzt und »auf dieser Basis die Grundpositionen der christlichen Lehre durch den Hauptartikel von Christus und der Rechtfertigung« darlegt (67). Die Plausibilisierung dieser zentralreformatorischen Denkbewegung hat sich der Kommentator zum Ziel gesetzt. Methodisch greift F. deshalb auf Luthers Schriften zurück, die im Umfeld der ASm bzw. seit Beginn der Reformation entstanden. Am Beispiel des Begriffs »Er­-lösung«, den Luther analog zum katechetischen Gebrauch anstelle des theologischen Begriffs »Rechtfertigung« verwendet, weist F. zudem auf die für Nichttheologen verständliche Sprachgestalt der Artikel hin.
Der Kommentar der einzelnen Artikel ist so verfasst, dass er auch unabhängig vom Gesamtaufriss verstanden wird. Die jedem Artikel beigefügten Literaturhinweise bieten zudem eine hervorragende Studierhilfe. Zwei Exkurse über »Luthers Bezugnahme auf Augustins Sündenverständnis« (223–236) und »Luthers Schriftverständnis« (347–358) ergänzen den die ganze Theologie Luthers in nuce umfassenden Kommentar.
Nach der theologischen Interpretation thematisiert F. in einem eigenen Kapitel überblicksartig die »Rezeption« und »Entwicklung der Schmalkaldischen Artikel zur Lehrnorm und Bekenntnisschrift« (417–432), wobei er auf die theologischen Streitigkeiten nach Luthers Tod und die kirchenordnende Indienstnahme der Bekenntnisartikel seit den 1560er Jahren eingeht und mit der Aufnahme der Artikel in das Konkordienbuch endet. Dass die seitdem zu den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirchen gehörenden ASm durch ihre christologisch-rechtfertigungstheologische Charakteristik das in der Heiligen Schrift bezeugte Evangelium bekräftigen und unverfälscht zu Gehör bringen wollen, un­terstreicht F. abschließend.
Als höchst brauchbar erweist sich die differenzierte Zusammenstellung der Quellen und Sekundärliteratur (433–476). Umfangreiche Register runden dieses neue Standardwerk ab.
Zum Schluss sei noch einmal auf die Entstehungsgeschichte der ASm zurück­gekommen und auf einen von der Forschung bisher übersehenen Aspekt hingewiesen. Wie F. darstellt (14 f.), setzte sich Luther seit dem 12./13. Dezember 1536 an die Abfassung der Artikel und lud aufgrund kurfürstlichen Befehls am 15. Dezember neben den führenden Wittenberger Theologen Johann Agricola aus Eisleben, Nikolaus von Amsdorf aus Magdeburg und Georg Spalatin aus Altenburg unter höchster Geheimhaltung zur Theologenkonferenz Ende Dezember.
Am 18. und 19. Dezember musste Luther die Niederschrift der Artikel abbrechen, da ihn eine plötzliche Herzattacke ans Bett fesselte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er, wie aus der in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrten Originalhandschrift (Cod. Palatini Germanici Nr. 423) hervorgeht, den Exkurs »Die falsche Buße der Papisten« fertiggestellt. Den Rest der Artikel diktierte Luther zwei verschiedenen Schreibern, von denen einer höchstwahrscheinlich Caspar Cruciger war. Wie die gesamte Lutherforschung behauptet auch F. noch, dass der andere Schreiber »unbekannt« sei (15). Aufgrund eines Handschriftenvergleichs kann jetzt auch der zweite Schreiber, der die Artikel »Ordination«, »Priesterehe« und »Kirche« niederschrieb, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden. Es war kein Geringerer als Johann Agricola! Weil er sich mit seinem Landesherrn überworfen hatte, missverstand Agricola Luthers Einladungsschreiben als Rückberufung nach Wittenberg, so dass er Eisenach überstürzt verließ. Am 20./21. Dezember stand Agricola mit seiner Frau und seinen neun Kindern vor Luthers Tür, wo er im Haus Aufnahme fand und als »Geheimnisträger« dem kranken Luther zur Seite stand. Jener sich 1537 an der Funktion des Gesetzes im Bußgeschehenen zwischen Luther und Agricola entzündende Konflikt, der als antinomistischer Streit bekannt werden und Luther im Vorwort der Druck­ausgabe der ASm von 1538 zur Polemik gegen die »falschen Brüder« reizen sollte (61 f.), war in besagten Dezembertagen 1536 noch nicht absehbar.
Das angeführte Beispiel macht deutlich, dass der detailreiche Kommentar zu weitergehenden Beobachtungen anregt. Kurzum: Es gelingt F., die ASm als zentralen Schlüsseltext für Luthers Theologie verstehen zu lernen und sie dem interessierten Leser zur wiederholten Lektüre schmackhaft zu machen.