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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1335-1336

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Campbell, Douglas A.

Titel/Untertitel:

The Deliverance of God. An Apocalyptic Rereading of Justification in Paul.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XXX, 1218 S. gr.8°. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-8028-3126-2.

Rezensent:

Mark A. Seifrid

Zu diesem Kraftakt gibt es nichts Vergleichbares. Freilich nimmt C. viele der umstrittenen Dimensionen des paulinischen Denkens auf. Der »Glaube Jesu Christi« ist Christi Treue und Glauben an Gott und zugleich die Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit (N. T. Wright). Wie der Titel schon suggeriert, »Gerechtigkeit« und »Rechtfertigung« haben mit Gottes Heil schaffendem Werk und der Errettung von der Macht der Sünde zu tun (wie Schlatter, Käsemann, Stuhlmacher und andere geltend gemacht haben). Die Soteriologie des Apostels ist grundsätzlich partizipatorisch, wie Deißmann, Schweitzer und vor allem Wrede behauptet haben. Paulus denke nicht introspektiv und individualistisch, sondern korporativ und inklusivierend (Krister Stendahl). Fast alle Fragen der laufenden Debatten treten hier auf. C.s Stellungnahme ist fast immer »revisionistisch«. Die Arbeit hebt sich aber von allen anderen ab, indem C. mit geradezu allen früheren Positionen gründlich unzufrieden ist. Niemand ist seinen Normen gerecht geworden. Obwohl er seine Arbeit für »deeply Protestant, if not Lutheran« (934) hält, meint er auch, dass sie »an important step in the recovery of the authentic and orthodox Pauline gospel« (935) ist. Post tenebras lux!
Exegetisch ist C.s Relektüre von Röm 1,18–3,20 von größter Bedeutung. Der erste Abschnitt der Argumentation (Röm 1,18–32) repräsentiere die Haltung eines falschen Lehrers, die Paulus im folgenden Text entkräftet (469–600). Diese neue Auslegung sollte man natürlich in Betracht ziehen. Dass sie aber viele überzeugen wird, ist unwahrscheinlich.
Abgesehen von seinem klaren und legitimen Aufruf zur rhetorischen Textanalyse und zur apokalyptischen Interpretation der Theologie des Apostels wird C.s Arbeit von der Ablehnung der sog. »Justification theory« bestimmt. Diese »Rechtfertigungstheorie« hat mit einem Gott zu tun, der nach seiner vergeltenden Gerechtigkeit Menschen verdammt, die den von ihnen gewonnenen rationalen Einblicken in die Welt nicht gerecht werden – auch wenn ihnen das posse non peccare nicht gegeben ist. Das Heil unterliegt trotzdem der Bedingung des Glaubens an Jesus, der für unsere Sünden Gott abbezahlt hat. Die von C. Angeklagte ist mehr oder we­-niger die Bundestheologie der reformierten Tradition, obwohl die evangelische Theologie insgesamt an dieser »Rechtfertigungstheorie« mitschuldig ist. Katholische Theologie ist auch fehlerbehaftet, insoweit sie an einer anselmischen Perspektive der Versöhnung Teil hat. C. debattiert offensichtlich mit einem von ihm konstruierten Gegner.
Nach C. sollen wir von einem wohlwollenden Gott sprechen, der Menschen ohne »coercive violence« errettet. Er findet diese Theologie vor allem in Röm 5–8 (62–95, auch 931–936). C. will also ein Retten ohne Richten, ein Reich Gottes ohne Gottes Gericht. Dabei denkt man unwillkürlich an das Urteil von H. Richard Niebuhr über die liberale Theologie des 20. Jh.s, bei der es so war: »A God without wrath brought men without sin into a kingdom without judgment through the ministrations of a Christ without a cross« (The Kingdom of God in America, 1959, 193). Auch wenn C. Raum für Christus und sein Kreuz lässt, ist seine Alternative nicht weit davon entfernt. Irgendwie verliert er das aus dem Blick, was er selber bekräftigt: Gottes (verständlicher) Zorn ist ein Ausdruck göttlicher Güte, die Zu­rückweisung des Bösen und die Errettung der Unterdrückten (930). C. vergisst, dass wir »der Sünde« nur als in Menschen und ihren Taten verkörpert begegnen, sonst nicht. Die Erwartung des letzten Gerichts ist die Hoffnung auf die Richtigstellung aller Dinge. C. be­hauptet sogar, dass »Rechtfertigungstheorie« (mit anderen Worten: evangelische Theologie) zum Holocaust nichts zu sagen habe (206). Das Gegenteil ist der Fall: Auf den Holocaust hat C.s Theorie einer rettenden Transformation ohne Gericht keine Antwort. Wo es kein Gericht gibt, kann es auch keine Vergebung der Sünden geben. Wie Käsemann ganz richtig betont hat, bekommen wir Gnade nur von der Hand unseres Richters.
Eine ähnliche Kritik könnte man auch an C.s Problematisierung des Glaubens als Bedingung des Heils üben. Auch wenn der Glaube Gottes Werk und nicht unseres ist, muss man die menschliche Antwort auf Gottes rettendes Wort irgendwie in Betracht ziehen. C.s Versuch, die Beziehung auf den Einzelnen in der Theologie des Paulus abzuschaffen, ist von Anfang an misslungen. Denn seine eigene Perspektive von der Transformation des Menschen trägt zwangsläufig einen starken individualistischen Impuls: Wir alle sind schon transformiert worden; manche aber mehr als andere. Statt des Glaubens, in dem wir zugleich eins und unterschieden sind, bekommt man hier eine streng moralistische Differenzierung der Personen.
Es ist wirklich schade, dass ein so massives Werk, in dem so viel Arbeit steckt, solche wesentlichen Fehler aufweist. Man kann nur C.s Aufwand an Zeit und Kraft bewundern und darauf hoffen, dass er in Zukunft von größerem Erfolg gekrönt sein wird.