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Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1332-1335

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Backhaus, Knut

Titel/Untertitel:

Der Hebräerbrief. Übersetzt u. erklärt v. K. Back­haus.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2009. 532 S. 8° = Regensburger Neues Testament. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-7917-2208-5.

Rezensent:

Martin Karrer

Der Hebräerbrief, sprachlich und theologisch eine der anspruchsvollsten, wenn nicht die kühnste Schrift des Neuen Testaments, findet seine Liebhaber – und verdient sie, wenn wir Backhaus folgen. Denn der Hebr erweist sich, sobald wir das Vorurteil schwerer Zugänglichkeit abstreifen, als aktuelle, theologisch und seelsorgerlich hoch leistungsfähige Schrift: Er öffnet den Horizont über das vorfindliche irdische Leben hinaus zum unsichtbaren Raum Gottes und stellt in die Pilgerschaft dorthin. Auf diesem Weg verleiht er den Hörerinnen und Hörern Kraft zum Leben und zur freien Rede mit Gott, gegründet auf die Proexistenz Christi. Genau das aber meint Seelsorge, recht verstanden als Sorge für Seele und Leben aus dem lebendigen, heute wie einst sprechenden Wort Gottes. So lässt sich die Pointe des Kommentars von B. zusammenfassen.
Der Kommentar vereint damit zwei Stärken: die sorgfältige literarisch-theologische Auslegung und den Mut zur personalen Aktualisierung. Vorgegeben ist dieser doppelte Akzent durch die Reihe des Regensburger Neuen Testaments. Gefasst wird er in einen Dreischritt der Darlegung zu jedem Abschnitt, bestehend aus Analyse, Einzelauslegung und Ausblick. Die Analyse erhebt die literarische Struktur und berücksichtigt, geprägt durch die Hebr-Forschung seit D. A. deSilva (Perseverance in Gratitude, 2000), die Erkenntnisse antiker Rhetorik; das wird der eigentümlichen Anlage des Hebr als »logos paraklêseôs« (13,22), d. h. »schriftgebundene Überzeugungs- und Beratungsrede« (40) gerecht. Die Auslegung (Einzelexegese) erschließt die theologischen Horizonte, Kultsprache, apokalyptische Einflüsse und – für B. am wichtigsten (ab 16) – die eigentümliche, dem Mittelplatonismus verwandte (wenn auch nicht unmittelbar philosophische) Orientierung des Hebr an der unsichtbaren göttlichen Wirklichkeit, die allem Sichtbaren/Irdischen überlegen ist (Berührungen zur Gnosis, die die Forschung früher gerne beschäftigten, erweisen sich demgegenüber als se­kundär, wieder eine übergreifende Erkenntnis der gegenwärtigen Forschung; 52–56 u. ö.). Der Ausblick schließlich rundet die Erfahrung jedes Abschnittes anhand der persönlichen Begegnung des Auslegers mit den Impulsen des Textes ab.
Die Reihe gestattet keine Auseinandersetzungen mit Literatur und keine Fußnoten. Doch ist die Forschung auf aktuellstem Stand stets präsent (s. die Bibliographie 496–524 und die Aufsätze B.s zum Hebr, die zu einem wesentlichen Teil in ders., Der sprechende Gott, WUNT 240, 2009, gesammelt sind). Nennen wir einige relevante Entscheidungen:
Mit guten Gründen hält B. – was die Einleitungsfragen angeht – an der herkömmlichen Datierung des Hebr ins späte 1. Jh. fest, ohne die (im angelsächsischen Raum beliebte) Alternative der 60er Jahre ganz auszuschließen (32–36). Ebenso begründet entscheidet er sich für die Integrität des Hebr, also die Zugehörigkeit von 13,22–25 (und Kapitel 13 insgesamt) zum ursprünglichen Text (37 f.). Die Erwähnung Italiens und des Paulusmitarbeiters Timotheus in diesen Versen sind damit nicht sekundär und nicht literarische Fiktion. Die Berührung der unterschiedlichen Theologien von Hebr und Paulinismus wird vielmehr zum Indiz für die Weite des spätneutestamentlichen Christentums (490–492 u. ö.). Italien verweist nach B. auf die Adresse des Hebr. Der Rezensent würde in der Er­wähnung der Italia eher den Abfassungsort gespiegelt sehen. Doch so oder so spitzt sich die frühchristliche Vielfalt im Zentrum der italischen Region zu, wohin Röm und Hebr ebenso wie der theologisch nochmals andere 1Clem verweisen (vgl. 23–27). Von dieser Of­fenheit für Vielfalt kann gegenwärtige Auslegung lernen; B. spiegelt das in betonter Würdigung Luthers und evangelischer Traditionen (7.22. 76.211.244 usw.) unter souveränem Zusammenspiel mit katholischen Akzenten (Hinweise auf den Messkanon 264.326 etc.).
Der Autor ist anonym und steht (gegen ältere vatikanische Entscheidungen) Paulus fern. Er ist nach B. wahrscheinlich nicht einmal jüdischer Herkunft, da er ein kritisches Bild von Gesetz und Sinai entwirft (21 f.). Die Schlüsselstellen 10,1 und (für B. relevanter) 12,18–24 lassen sich allerdings tora- und sinaifreundlicher lesen. Der Text in 10,1 ist in den Handschriften umstritten und der dort erwähnte Schatten (10,1) in den heißen Mittelmeerregionen positiv konnotiert (vgl. die Beschattung des Allerheiligsten in LXX Ex 38,8 [diff. MT]; Num 9,18; Dtn 33,12 usw.). Der Gottesschrecken des Sinai in 12,18–21 ist vielleicht positiver, Israel gegenüber den Völkern auszeichnender Schauder (differenzierend zu 434–436). Indessen würde eine solche Korrektur die von B. eingeschlagene Linie nur verstärken, das von ihm Gesagte unterstreichen: Dem Hebr fehlt (anders als dem jüngeren Barn) jede antijudaistische Tönung. Die Auseinandersetzung mit dem irdischen Heiligtum des Judentums zielt darauf, irdische Verhaftungen zu lösen, nicht das Judentum zu verwerfen (437.470 f. usw.).
Im Aufbau des Hebr erkennt B. mit der Mehrheit der derzeitigen Forschung eine dreiteilige Gesamtstruktur aus »narratio« (1,5–4,13 nach dem »exordium« 1,1–3), »argumentatio« (4,14 bzw. 5,1–10,18; 4,14–16 sind »propositio«) und »peroratio« (10,19–12,29), ausklingend in den praktischen Weisungen 13,1–19 (9–11.42–44.177 usw.). Der Redegestus vereint gerichtlichen (dikanischen) Ernst, Gottes- und Christuslob (Epideixis) und Beratung (deliberativ-symbouleutisches Sprechen) unter Dominanz der Beratung (38–40). Beratung zielt aufs Leben. Daher sind die ethischen Abschnitte des Hebr, obwohl oftmals kurz und relativ konventionell, von hohem Rang; Glaube will und muss gelebt sein, er verlangt die Konkretheit »eines unterscheidbaren Lebensstils« in sozialer Verlässlichkeit bis hin zu einer familial orientierten Sexualethik (463; ob 13,4 um der sozialen Verlässlichkeit willen Ehen mit nichtchristlichen Partnern infrage stellt, scheint dem Rezensenten allerdings fraglich).
Drei theologische Schwerpunkte erarbeitet B.: Im engeren Sinn theologisch hebt der Hebr auf den sprechenden Gott ab, was zu konsequenter Achtsamkeit auf die vielen Schriftworte ab Kapitel 1 (in denen Gott spricht), somit auf Schriftgebrauch und Schriftverständnis des Hebr zwingt (66 f.80–104 usw., nochmals eine wichtige Gemeinsamkeit gegenwärtiger Forschung). Die Christologie (der zweite Schwerpunkt) wird im Sinne soteriologischer Christologie zur Mitte des Textes; denn Gottesbild, Schrift, Kult und Eschatologie personalisieren sich in Christus so, dass sich Erlösung ereignet (16.67–71 usw.). B. macht daraufhin existentiale und exis­tentielle Erlösung hinter der heute fremden Kultsprache sichtbar; er sieht sich berechtigt, die kultischen Motive um Hohepriester, Opfer, Versöhnungstag und Blut in Hebr 5–10 nichtkultisch zu übertragen, etwa das »Blut« Christi im kompositorischen Höhepunkt des Textes (9,11–15) nicht kultisch real, sondern »metonym für die menschlich-proexistente Hingabe« Christi zu lesen (319); das erleichtert das heutige Verstehen, lenkt aber von der Intensität der Kultsprache des Hebr vielleicht etwas ab. Den dritten Schwerpunkt bildet das Verständnis des Glaubens mit der »berühmten Definition 11,1 ...: Glauben ist der im Modus der Hoffnung geöffnete Zugang zum unsichtbaren Wesentlichen« (71, vgl. 382–384). Hoffnung ist dabei reale (auf unsichtbare, aber gerade dadurch relevante Realität gegründete) Gewissheit. D. h. der Glaube vereint das Urvertrauen der Hoffnung mit Tatkraft im Leben, ermächtigt zum Standhalten in Bedrängnissen ebenso wie zum Handeln in stets neuen Herausforderungen. Diese Grundstruktur erscheint B. hochmodern und philosophisch vermittelbar; er verweist auf die Äußerung L. Wittgensteins: »An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist« (Tagebücher 1914–1916; Werkausgabe I, 121999, 167 f.). Die Brisanz des Hebr ist in seiner Orientierung am Unsichtbaren intellektuell anspruchsvoll und seelsorgerlich – wie beschrieben – ermutigend.
Kehren wir von dort noch einmal zur Situation des Hebr zurück. B. sieht sie, herkömmliche Auslegungen fortführend, durch eine mehr noch interne als externe Krise geprägt. Von außen ist die Gemeinde bedrängt (wenn auch nicht, wie früher angenommen, intensiv verfolgt), innen ermüdet (passend zu einer Sozialpsychologie der zweiten bzw. dritten christlichen Generation), wie er schildert (27 f.). Das ist nicht ganz ohne Spannungen am Text durchzuhalten, der eine intensive Lese- und Hörbereitschaft voraussetzt; die Krise der Gemeinde könnte also vom Hebr-Autor rhetorisch überzeichnet sein. Doch gerade durch dieses Gemeindebild gewinnt der Hebr an Aktualität. Die gegenwärtige innere Ermüdung von Gemeinden ist durch ihn ansprechbar.
Das lenkt uns zur Reihe der Ausblicke. Sie beginnt mit der These »Gott ist zugänglich« (89; zu 1,1–4) und findet ihre Mitte in der Werbung für den Ernst des Glaubens in der Spannung zwischen Furcht und Hoffnung (»metus« und »spes«). Rhetorisch baut der Hebr diese Spannung wie in einem Drama auf, um sie der Lösung gelebter und erfahrener Gnade zuzuführen. »Erlösung« bedeutet daher in ihm nicht zuletzt die »Lösung« von (durchaus ernst zu nehmender) Angst vor dem Gericht Gottes. Die Ablehnung der zweiten Buße ordnet sich in diese Textpragmatik ein; sie ist dem Hebr wichtig und doch nicht systematisch letztes Wort (242–244 u. ö.). Konsequent geleitet der letzte Ausblick B.s uns auf eine Wanderung des Lebens »mit grenzenloser Hoffnung« unter dem in Christus personalisierten Ruf Gottes (494).
Diese überzeugende, in vielem faszinierende Aktualisierung (man lese etwa den Abschnitt zu M.-L. Kaschnitz, 448–450) ist nicht zuletzt angeregt durch das Ringen von O. Kuss, den Vorgänger B.s in der Kommentierung des RNT, mit Fragen des Glaubens (vgl. 8 u.ö.). In Verbindung mit der exegetischen Sorgfalt und intellektuellen Redlichkeit verleiht sie dem Kommentar besondere Qualität im pastoralen und Predigtdienst. – Alles in allem liegt ein vorzüglicher Kommentar vor, der die Reihe schmückt und dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.