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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

160–163

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Goeckel, Robert F.

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kirche und die DDR. Konflikte, Gespräche, Vereinbarungen unter Ulbricht und Honecker. Aus dem Amerik. übers. von K. Gustavs.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1995. 371 S. 8°. Kart. DM 45,-. ISBN 3-374-01584-0.

Rezensent:

Christian Meyer

Es ist das Verdienst der Evangelischen Verlagsanstalt, die deutsche Ausgabe des von dem amerikanischen Politologen im Jahre 1990 bei Cornell University Press Ithaca and London herausgebrachten Werkes "The Lutheran Church and the East German State ­ political conflict and change under Ulbricht und Honecker" besorgt zu haben. Die EKD hat das unterstützt; Kurt Nowak hat ein Geleitwort geschrieben. Goeckel, Enkel eines mitteldeutschen Ahnherren, hatte schon 1982 zu der DDR-Periode zwischen den Verfassungsänderungen von 1968 und 1974 die Dissertation "Detente and conservatizing liberalization: the state and the Evangelical Churches in the German Democratic Republic, 1968-1974" (Cambrigde, Mass. Harvard University) vorgelegt. Daher bilden in der im wesentlichen bereits vor dem Aufbruchsjahr 1989 und von Katharina Gustavs ins Deutsche übersetzten Studie die ersten Jahre des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR einen Schwerpunkt. Das Vorwort für die deutsche Ausgabe weist darauf hin, daß das Buch auf die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung nicht näher eingeht. Nicht behandelt sind ferner "die Bedeutung des Staatssicherheitsdienstes für die Kirche und die Kollaboration einzelner Kirchenführer", weil ­ wie im Vorwort näher erläutert ­ G. seine früher in der amerikanischen Ausgabe dargestellten Erkenntnisse über Kooperationsmotive der SED und Kontakte kirchlicher Amtsträger nicht erneuern will. Seiner Überzeugung nach halten seine Thesen auch angesichts der späteren Enthüllungen von erschütternden Einzelfällen einer Überprüfung stand. Er konnte Archive der kirchlichen Publizistik in Berlin nutzen, und er hatte die Hilfe von Reinhard Henkys. Unter seinen Interview-Partnern befanden sich eine Reihe von regimefreundlichen Funktionären. Als besondere Forschungshilfe gibt er das zentrale Partei-Archiv der Ost-CDU und zwei Aufpasser an, die "IM" waren.

Das Buch entfaltet zwei einander ergänzende Hauptthesen: 1. Obwohl die DDR ein stalinistisch geprägtes Regime war, veränderte sich ihre Politik in bezug auf die Religion und die Kirchen doch erheblich. Das Regime gewährte der Kirche als Institution eine Legitimität, und die Kirche gewährte der DDR als politischer Gemeinschaft ebenfalls eine Legitimität, wobei sie Sozialismus als ihre Umwelt akzeptierte. 2. Die Politik der Sowjetunion stellte für die Entscheidungen im Kirche-Staat-Verhältnis der DDR immer einen maßgebenden Faktor dar. Die zuerst genannte These stützt sich auf die Entwicklung in den siebziger Jahren. Die andere These ist mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Deutschland bestätigt worden.

In den zu seinen Hauptthemen hinführenden vier Kapiteln gibt G. einen (wohl zunächst für die amerikanischen Leser gedachten) Überblick über die Kirchentümer, die Theologie und die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen in Deutschland, denen gegenüber der ideologisch ausgerichtete Machtapparat mit besonderer kirchenpolitischer Strategie sich etablierte und die Rahmenbedingungen im Zuge seiner stalinistischen Politik revolutionierte. Das Ziel war die Spaltung der EKD. G. sieht "die Bildung des Kirchenbundes weniger aus einem positiven Konsens heraus als infolge einer unsicheren Koalition sehr unterschiedlicher Interessen", mithin als defensive Reaktion auf staatlichen Druck. Daß "auch die EKD per se für eine Zustimmung zu gewinnen war", bleibt ohne Beleg. Allerdings wird klar, daß es sich auf der gesamtkirchlichen Ebene um einen einseitigen Akt der Ablösung handelte.

Hinzuzufügen ist nach dem Material der Stuttgarter EKD-Synode von 1970 jedoch, daß die Gründung des Kirchenbundes von seiten der EKD lediglich respektiert, nicht anerkannt oder akzeptiert worden ist. (Zum Vergleich sei zu den Rechtsfragen hingewiesen auf Martin Heckel, Die Vereinigung der evangelischen Kirchen in Deutschland, Tübingen 1990, 12-79: Das Ausscheiden der mitteldeutschen Landeskirchen aus der EKD war rechtlich nicht vorgesehen, wurde von den Organen der EKD nicht gebilligt, nur hingenommen und nicht vollzogen; rechtlich blieb die EKD-Verfassungslage in der Schwebe, die EKD-Mitgliedschaft der Bundeskirchen ruhte.) Nichtanerkennung des Kirchenbundes war auch auf seiten des DDR-Regimes zunächst die Reaktion (Kapitel 5), bis die Strategie, die einzelnen Landeskirchen gegeneinander auszuspielen zu versuchen, umgestellt wurde, als Schönherr und Stolpe an der Spitze des Bundes agierten ( 171/172). Dort ergab sich nun das Suchen nach der Formel für eine Rolle der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft (Kapitel 6). Zu den Schlagworten "Kirche im Sozialismus", "Kirche für andere", "Trennung der zwei Reiche", "Kritische Solidarität", "Wächteramt" bleibt G.s theologische Erörterung praktisch offen. Die im Partnerschaftsverhältnis zur übrigen EKD oftmals zwischenkirchlich geltend gemachten besonderen Erfahrungen des Kirchenbundes zum Christsein im militanten, atheistischen Umfeld hätten hier von einem "neutralen" Blickwinkel des unbeteiligten Ausländers gewürdigt werden können. (Immerhin werden die ökumenischen Aktivitäten des Kirchenbundes [234 ff.] eher kritisch einbezogen.)

Der Staat erwartete Identifikation (Kapitel 7 und 8). Doch erreicht wurde dies weder durch das sogenannte "Spitzengespräch" vom 6. März 1978 noch durch die Luther-Feiern 1983. Denn bald begann es mit den Anfängen einer neuen Opposition: Die Berührungen der Kirche mit der Umweltschutzbewegung und mit der Friedensbewegung sowie mit verschiedenen Gruppen, die die Offenheit der Kirche nutzten und kirchlichen Schutz beanspruchten. Goeckel hebt hervor, daß die Kirche den Ort bot, der Andersdenkenden Gehör verschaffte, den Dissens hervortreten ließ, aber die maßvolle Begrenzung zu halten suchte. Das war denn wohl auch ohne äußere Machtmittel der erhebliche Einfluß, den einzelne für ihre Kirchen als Erbe des Kirchenbundes geltend machen.

Im Schlußkapitel legt G. resümierend die Rolle der Kirchen in den letzten Jahren der Honecker-Zeit dar: Sie seien dem DDR-Regime nützlich erschienen, politische Unzufriedenheit abzufangen. In diesem Zusammenhang weist G. den Kirchen eine entlastende Funktion zu, die er aus dem System (zu Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmen, Organisationen und Staaten) von Albert O. Hirschman’s Überlegungen ("Exit Voice and Loyality", deutsch: Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974) ableitet ­ eine bemerkenswerte Ergänzung zu Hirschman’s eigener Überprüfung und erneuter Betrachtung seines Modells (vgl. in "Leviathan" 20 [1992], 330-358). Insgesamt bezeichnet G. das Verhältnis zwischen Kirche und Staat als "symbiotisch" ( 310). Informelle Gespräche beseitigten konfliktgeladene Situationen, Kooperationsangebote blieben weitgehend leere Worte, halfen aber zu pragmatischem Umgang. Als Institution wurde die Kirche respektiert. Es gab keine klaren Rechtspositionen; vage Formeln bezeichneten die politische Situation. Damit wertet G. nur vorsichtig. Seine Darlegungen lassen jedoch erkennen, daß er die damalige kirchenpolitische Lage nicht unterschätzt hat: Die Formulierungen in der DDR-Verfassung von 1968 hielten der "Entwicklung zum Sozialismus" alle Möglichkeiten offen. Das zehn Jahre später veranstaltete "Spitzengespräch" ergab einige Zusagen, aber waren sie rechtsverbindlich, wenn lediglich eine Presseerklärung abgegeben wurde? So konnte die Partei formlos "kündigen". Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zum Verhältnis Staat-Kirche gab es in der DDR nicht, Recht oder juristische Methode hatten dort keinen Platz: Die herrschende Partei interpretierte und bestimmte den Entwicklungsprozeß ­ taktisch festgelegt und faktisch marxistisch! Und ­ das hat G. den Archiven entnommen (zum Beispiel 137, 145/46, 195, 261/62) ­ für Leistungen wurden Gegenleistungen verlangt, enttäuschte Erwartungen wurde mit Sanktionen belegt (z. B. 161/62, 165 ff.). Handhabbare Regeln vermißte die Kirche allenthalben. Deshalb ist anzumerken, daß Goeckel die Grundrechtsperversion der kommunistischen Doktrin und Praxis recht einfach charakterisiert, wenn er erläutert, die als Rechte formulierten Statusverhältnisse der Menschen in der DDR seien als Pflichten gemeint gewesen.

Die DDR-Verfassung beschrieb Ideologie: Anvisiertes Ziel war es, alle Staatsbürger zum Glied der "sozialistischen Menschengemeinschaft" oder zu einem integrierten Teil der klassenlosen Gesellschaft des kommunistischen Manifestes zu machen. Deshalb bestimmten gemäß dem in der sozialistischen Verfassung festgestellten Stand des "Fortschritts" und gemäß der Projektion der Parteibeschlüsse die Freiheiten, die wir als Grundrechte kennen, einen positiven Status. Sein Inhalt bezeichnete die Aufgabe, das bürgerliche, religiöse "falsche Bewußtsein" abzuschütteln und davon los und ledig mitzuwirken auf dem vorgegebenen Weg zum "großen Ziel". Es ist die Freiheit durch Anpassung.

Allzu glatt erscheint die These von der wechselseitig gestützten Legitimierung. Dies ist zu relativieren. Denn die evangelische Kirche war und ist per definitionem und kraft ihres Auftrages nicht befugt ­ und sie hat es in der sowjetisch gestützten Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei im östlichen Deutschland nicht getan ­, die mit den Begriffen der Demokratie bemäntelten Versuche, Definitions-, Erziehungs- und Herrschaftsgewalt (Chr. Starck) der Regierenden zu legitimieren. Sie hat Erziehung zum Haß und zum "sozialistischen Menschen" nicht gebilligt, geschweige denn stabilisiert. Es wäre eine Verleugnung des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes, teilte man ein Freiheitsverständnis, das dem Staat unbeschränkte Macht und die ausschließliche Zielsetzung zur Befreiung des Menschen zugesteht. Gegenüber derartigen Anforderungen haben die evangelischen Landeskirchen auch bei mancherlei Gratwanderungen einzelner Führer die Bezeugung der Barmer theologischen Erklärung nicht außer acht gelassen.

G. hat sich mit der Kirche als Institution beschäftigt, nicht mit den Gemeindegliedern. Die ungerechtfertigten Nachteile, die viele Menschen wegen der Bedrängnis und Ausgrenzung in Ausbildung und Berufsleben zu tragen hatten und in den Folgen bis heute nicht verkraften können, sind in dieser Arbeit nicht sonderlich erwähnt. Indessen waren es doch zumeist Gemeindeglieder, für die sich die Kirche als Institution eingesetzt hat ­ vergeblich, weil und solange ihr ein totalitäres System mit absolutem Wahrheitsanspruch und mit einem das deutsche Volk zerreißenden Feindbild mit unheilvollem Ziel gegenüberstand. Vor allem im Bereich des Bildungswesens gab es keine Chancen für ein Erweichen bei der harten Umsetzung des sozialistischen Erziehungsziels. Über die verletzte Gleichheit und Religions- und Gewissensfreiheit junger Christen und ihrer Eltern wurde den Kirchen kein Gespräch mit dem Ministerium für Volksbildung oder mit Verantwortlichen der Lehrerausbildung ermöglicht.