Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2010

Spalte:

1323-1325

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gasser, Christoph A.

Titel/Untertitel:

Apokryphe Psalmen aus Qumran. Ihr Beitrag zur Frage nach dem Kanon.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2010. 201 S. 8°. Kart. EUR 28,80. ISBN 978-3-290-17542-9.

Rezensent:

Ulrich Dahmen

Es handelt sich um eine bei K. Seybold in Basel verfertigte Dissertation aus dem Jahre 2002 (!). Laut Vorwort (9) in einer »für den Druck überarbeitete[n] Form«; davon merkt man inhaltlich nichts. Der Titel verspricht eine Behandlung der apokryphen Psalmen aus Qumran hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Kanon – offensichtlich ist damit das kanonische Psalmenbuch gemeint. Dieses Versprechen wird jedoch überhaupt nicht eingelöst. Stattdessen besteht das Buch – nach einer kurzen Fund- und Forschungsgeschichte (17–24) – aus zwei erratischen Blöcken, die auch am Schluss nicht zusammengeführt werden: zum einen einer Präsentation und Diskussion verschiedener Positionen zur Entstehungs- und Wachstumsgeschichte des Psalmenbuches im Lichte der Qumran-Evidenz (P. W. Flint; J. C. VanderKam; J. A. Sanders; H.-J. Fabry) und des kanonischen Prozesses der hebräischen Bibel (E. Ulrich) (25– 92); zum anderen einer Präsentation, Übersetzung und Editionskritik einiger, längst nicht aller apokrypher Psalmen aus Manu­-skripten der Höhlen 4Q (4QPs f) und 11Q (11QPsa) (101–189). Da­-zwischen geschoben ist (93–99) eine kurze Auseinandersetzung mit Klaus Bergers Buch »Psalmen aus Qumran«, beispielhaft und exklusiv durchgeführt an einer äußerst knappen Übersetzungskritik von 4Q511 Frgm. 63, deren Sinn und Ziel im Aufriss des Buches sich überhaupt nicht erschließt; Gleiches gilt für das Referat von S. Wagners Aufsatz zu »עדי in den Lobliedern von Qumran« aus dem Jahre 1968, das die inhaltliche Darstellung abschließt (189–197). Das Literaturverzeichnis umfasst zweieinhalb (!) Seiten, darunter auch eine Anzahl eher populärwissenschaftlicher Werke (K. Berger; Baigent/Leigh [!]; M. Krupp; Eisenman/Wise [!]) und eine Reihe von Editionen und Hilfsmitteln. An »echter« Sekundärliteratur bleiben gerade einmal 20 Titel, von denen einige gar nicht, andere nur ein- oder zweimal in den Fußnoten aufgeführt werden – hier ist jeder wissenschaftliche Standard unterschritten.
Schon die einführende Begründung der Textauswahl wirft Fragen auf. Im Einzelnen behandelt werden aus 4QPsf Kol. 7–10 die Zion-Apostrophe, der eschatologische Hymnus und die Juda-Apostrophe; aus 11QPsa Hymn to the Creator, Plea for Deliverance, David’s Compositions (das ist ein Prosatext, kein Psalm!), Ps 151 und Sir 51,13–20 (sic). Die Tatsache, dass es weit mehr apokryphe Psalmen gibt (z. B. Hodajot; 4Q380–381 u. v. m.), wird schlicht ignoriert. Offensichtlich wird stillschweigend vorausgesetzt, dass apokryphe Psalmen nur dann von Bedeutung sind, wenn sie im Kontext biblisch-kanonischer Psalmen stehen, ohne dass diese Voraussetzung benannt, geschweige denn reflektiert würde. Viel schwerer aber wiegt in diesem Zusammenhang, dass mit keinem Wort die apokryphen Ps 154; 155 aus 11QPsa erwähnt werden oder ihre Nichtbehandlung begründet wird; Gleiches gilt für die Problematik von Ps 151B in 11QPsa, der ebenfalls ignoriert wird. Der Hinweis, »nach dem Motto multum, non multa zu arbeiten« (13), kann das nicht auffangen. Eine Reflexion auf die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes findet also nicht statt. Begründet wird nur die Auslassung von 11QPsApa, wo ebenfalls biblisch-kanonische und apokryphe Psalmen zusammengestellt sind: »sie tragen zu den dort gestellten theologischen Aussagen wenig oder gar nichts bei, sondern eröffnen ganz andere Traditionen, die sich jenseits unseres Themenfeldes bewegen« (12) – welches dieses »Themenfeld« ist, erfährt der Leser nicht –, sowie der sog. »Catena« aus Ps 118 in 11QPsa Kol. 16.
Die Darstellung und Würdigung der Forschungspositionen zur Psalter-Genese erfolgt nicht entsprechend der Chronologie der Forschungsgeschichte. Das führt dann dazu, dass der Vf. mit Erstaunen feststellt, dass – neben/vor P. W. Flint – auch J. A. Sanders »zur Erkenntnis eines 11QPs a-Psalters« kam (81). Ein sorgfältiger Blick in die wahrhaftig reiche Sekundärliteratur von Sanders hätte dies verhindern können und schnell deutlich gemacht, dass und wie Flint auf den Vorarbeiten von Sanders aufbaut. Gleichfalls befremdend fällt auf, dass die Darstellung der jeweiligen Positionen nur jeweils an einem einzigen ausgewählten Aufsatz/Buch durchgeführt wird und dementsprechend über eine oberflächliche Referierung nicht hinauskommt. Die gewichtigen Beiträge von G. H. Wilson zur Psalter-Genese werden gar nicht rezipiert. Die gesamte Darstellung wirkt formalistisch und oberflächlich – man hat den Eindruck, dass der Vf. die Differenzierung und Brisanz von Literaturgeschichte resp. Entstehungsgeschichte biblischer Texte, kanonischem Prozess und Kanonisierung gar nicht voll durchschaut (vgl. 41) – es gibt keine Stelle, an der er inhaltlich in die Tiefe oder ins Detail geht. Darstellung und Kritik werden trotz entsprechender Zwischenüberschriften oftmals nicht säuberlich getrennt, sondern laufen immer wieder ineinander. Immer wieder wird unwissenschaftlich formuliert: »äußerst interessante These« (31); »mahnt ihn seine große Vorsicht zur Bescheidenheit« (36); »dies ist gewagt und mutig« (195 f.) – das sind doch alles keine wissenschaftlichen Kategorien. Und das abschließende Verdikt, H.-J. Fabry versuche, »die Bibel der (katholischen) Kirche so zu retten, wie man sie bisher zu verstehen pflegte« (196), ist weder in der Sache begründet noch als (inter-)konfessionelle Spitze akzeptabel. Die Unbekümmertheit, mit der der Vf. Urteile fällt, steht in keinem Zusammenhang zu seiner Sachkenntnis. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der Vf. mit Genus und Ziel einer wissenschaftlichen Disputation nicht ausreichend vertraut gemacht hat. Am schwersten wiegt jedoch, dass der Vf. nach diesem Durchgang eine Synthese oder gar eine eigene, weiterführende These schuldig bleibt.
Der gleiche (negative) Eindruck setzt sich in den Textanalysen fort. Hier müssen einige wenige Hinweise genügen.
In 4QPsf werden (bei der Zion-Apostrophe) zunächst rein mechanisch die Texte der einzelnen Kolumnen separat analysiert, um dann festzustellen: »Die hier besprochenen Texte der coll. VII und VIII finden sich auch in 11QPsa. Dies ist vor allem für die Interpretation der allfälligen Zusammengehörigkeit dieser zwei Corpora (sic!) wichtig« (102). Man fragt sich ernsthaft, wie und warum die auf der Hand liegende, von 11QPsa bestätigte Zusammengehörigkeit des Textes dieser beiden Kolumnen als ein einziger Psalm in den ersten Analyseschritten derart ignoriert und nicht von vornherein bei Übersetzung und Auslegung zugrunde gelegt werden kann. Auch die Übersetzung lässt kein rechtes Gespür für hebräische Poesie und den parallelismus membrorum erkennen (vgl. 102 den Auftakt der Zion-Apostrophe; 4QPsf VII,14 f.). Bei der Behandlung von »Plea for Deliverance« aus 11QPsa (147 ff.) fällt negativ auf, dass der Beginn des material vorhandenen Textes (Kol 19, Z. 1) mit dem Auftakt des Psalms gleichgesetzt und gattungskritisch ausgewertet wird (161). »Es kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass dieser (Psalmauftakt) verlorengegangen ist, sei es beim Öffnen der Rolle oder aus welchen Gründen auch immer« (ebd.). Es ist nun wirklich seit Jahrzehnten unbestrittener Konsens, dass der Auftakt der Plea in den verlorenen Zeilen der vorangehenden Kolumne zu suchen ist. Die daraus in 11QPsb Frgm. 4,2 material belegten Wortreste »... ein Armer bin ich, denn/ja ...« zeigen das zur Genüge, aber dieses Manuskript wird überhaupt nicht wahrgenommen und einbezogen.
Die Problematik des Weisheitshymnus Sir 51,13 ff., dessen materialiter belegter Text in 11QPsa Kol. 21 mit V. 20 endet, aber dessen Abschluss (V. 30) in Kol 22, Z. 1 vorliegt, wird ebenfalls überhaupt nicht diskutiert; der Text wird allein im Blick auf Kol 21 wahrgenommen.
Insgesamt gehen die Analysen und Auslegungen kaum über das hinaus, was die Erstherausgeber Starcky und Sanders schon formuliert hatten – man vgl. nur die Angaben und Gewährsleute in den Fußnoten. Einzig Neuland wird betreten bei Schlüsselbegriffen in Plea (155–161), die sieben Mal (דסח, aber davon einmal דיסח!), vier Mal (הקדצ) und drei Mal (םימחר) belegt sind; aufgrund des fragmentarischen Textzustandes am Anfang und Ende des Psalms müssen diese Beobachtungen jedoch rein hypothetisch bleiben.
Fazit: Der Band enthält weder eine sachgemäße Zusammenfassung der bisherigen Forschung (auch nicht auf dem Stand von 2002!) noch Ansätze einer eigenständigen Forschungsleistung. Insofern ist er auch kein weiterführender Forschungsbeitrag. Wie diese Arbeit als Dissertation akzeptiert werden konnte, ist mir ernsthaft unverständlich; als Buch hätte sie – zumindest in der vorliegenden Form – nicht publiziert werden dürfen.