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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

159 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Andresen, Bernd

Titel/Untertitel:

Ernst von Dryander. Eine biographische Studie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. IX, 435 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 63. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-014814-5.

Rezensent:

Friedrich Winter

Mit dieser Kieler Dissertation liegt eine erste umfangreiche Biographie Ernst von Dryanders vor. Zugleich tritt damit die "wilhelminische Ära" unter kirchen- und hofpolitischem Aspekt in Erscheinung.

Die Einleitung (1-14) begründet geschickt, daß es an der Zeit sei, sich diesem Abschnitt deutscher Geschichte zu nähern und nach einer "verantwortlichen ’Kontinuität’" zu fragen, ohne die "Belastungen im Umgang mit diesem Teil deutscher Vergangenheit" (2) unkritisch zu übersehen. Der damals "erste Prediger" der preußischen Unionskirche, in dessen Person eine "Kumulation von einflußreichen Ämtern" stattfand und der zugleich eine besondere Verbundenheit von "Thron und Altar" (5) symbolisierte, verdient eine Würdigung, die der Vf. mit einer Fülle von Details vorantreibt, dann aber auch zu einer freundlichen und vornehmen Gesamtwertung zusammenbindet. Eine große geistliche Persönlichkeit, begrenzt durch die Lebens- und Denkgewohnheiten des 19. und beginnenden 20. Jh.s tritt in Erscheinung. Die wenigen einleitenden Hinweise auf Quellen und Sekundärliteratur geben den Riesenumfang des Literaturverzeichnisses (393-425) auf den ersten Blick nicht frei. Der Vf. dringt etwa weit in die Welt der damaligen Presse wie in die heutige historische Forschung zur wilhelminischen Zeit vor. Dazu kommen ein gediegenes Personen- und Sachregister, sowie eine Zeittafel und ein Abbildungsverzeichnis (426-435).

Relativ eilig werden die ersten fünfzig Lebensjahre Dryanders unter der nicht ganz treffenden Überschrift "2. Werden der Persönlichkeit" (15-45) dargestellt: Elternhaus, Schule, Studium, Aufbaustudium durch Bildungsreisen, Mitarbeit im Domkandidatenstift bei R. Kögel, Pfarrämter in Torgau, Bonn und Dreifaltigkeit in Berlin. Der Vater, die Franckeschen Stiftungen, A. Tholuck, J. Müller und J. T. Beck, W. Beyschlag und R. Kögel beeinflussen und fördern den werdenden Theologen.

Von Anfang an wirkt D. durch seine Predigt und füllt damit seine Kirchen. So ist es verständlich, daß dem ein ganzes Kapitel gewidmet wird: "3. Seelsorge und Pädagogik auf der Kanzel ­ Der Prediger Dryander" (46-77). Als Ireniker übte D. weniger politische Macht aus als etwa R. Kögel und bekennt von sich: "...in den Ämtern, die ich im Laufe der Jahrzehnte bekleidet habe, hat keines mein Herz besessen, wie das evangelische Pfarramt" (46). Kein Theologe seiner Zeit hat soviel Predigten zwischen 1881 und 1922 drucken lassen wie D. Im Unterschied zum häufig gespreizten Hofpredigerstil seiner Vorgänger spricht er für jedermann verständlich und einfach, vertritt dabei eine geistliche, auf das Individuum zielende Gewissensschärfung der "christlichen Persönlichkeit", ohne sozialethisch ausführlich zu werden, wie es heute üblich ist. Der Vf. sammelt geschickt die homiletischen Urteile der Zeitgenossen Dryanders, ohne alle heute üblichen homiletischen Fragestellungen anzuwenden.

"4. In der Kirchenleitung" (78-178). Es ist das Verdienst D.s, sich den "kirchlichen Parteistreitigkeiten der siebziger Jahre" zwischen Positiven, Konfessionellen und Liberalen zu entziehen und besonders die preußische, aber dann auch die deutschen Landeskirchen im Sinne eines vermittelnden "Unions"-kurses (7 u. ö.) mit zu beeinflussen. Das konnte er vor allem, nachdem der ehemalige Generalsuperintendent der Kurmark 1907 zum Geistlichen Vizepräsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates berufen worden war. Er wirkte nicht nur als Mitglied des Preußischen Herrenhauses, sondern war auch in der Leitung der Inneren und Äußeren Mission vertreten und knüpfte ökumenische Kontakte, die sich dann freilich mit dem Beginn des ersten Weltkrieges nicht weiter fördern ließen, weil D. dafür zu konservativ und national eingestellt war.

Chancen und Grenzen der Verbindung zum hohenzollernschen Herrscherhaus werden in einem breit gehaltenen Abschnitt deutlich: "5. In der Nähe des Thrones" (179-310). Von den etwas abrupten Anfängen als Schloßprediger, als Wilhelm II. verschiedene Vorgänger kaltstellte, bis zur vollen Tätigkeit als Oberhof- und Domprediger werden die Beziehungen zum Kaiser und seiner Frau, aber auch zum Hof als Ganzem, beschrieben. Sich angesichts der Fülle von säkularer kritischer Literatur, mit der der Vf. es aufzunehmen versucht, zurechtzufinden, dürfte die schwierigste Aufgabe bei der Bearbeitung des Themas gewesen sein. Das merkt man. D. und die anderen Domprediger seiner Zeit sind in der säkularen Forschung kaum beachtet worden. Trotz seiner bekannten Predigt zum Kriegsbeginn 1914 wirkt D. mehr persönlich seelsorgerlich, sieht zweideutigem politischen Handeln des Kaisers schweigend zu und bewahrt ihm seine Loyalität bis zum Tode 1922. Ganz präzise Aussagen über die Einwirkung D. auf den Kaiser wagt der Vf. nur an wenigen Stellen.

Die "6. Zeit der ’vaterländischen Not’" (311-386) zeigt D. als relativ maßvollen Kriegsprediger, aber auch als in den Niedergang des Kaiserreiches verwickelten konservativen Kirchenmann, dessen späte "Erinnerungen aus meinem Leben" (1922) ihn zum viel gelesenen kirchlichen Autor werden lassen. Die nationalen Verirrungen halten sich bei ihm in Grenzen, zeigen aber zugleich die mangelnde Fähigkeit des über Siebzigjährigen, sich noch auf die Welt von Weimar einzustellen.

Gelungen ist das "Schlußwort" (387-392). Gewiß war D. kein "bahnbrechender Protagonist", sondern "eine im positiven Sinne integrative Persönlichkeit als kirchlicher ’Nachlaß- und Traditionsverwalter’ in einer Zeit des Umbruchs" (387). Otto Dibelius hat vielleicht mögliche Impulse Dryanders noch am kräftigsten vertreten. Sonst kommt es zu einem Traditionsbruch von einschneidender Wirkung. Dennoch sind D.s Predigten in ihrer "Rückbindung an einfache biblische Wahrheiten auch heute noch anregend geblieben". Sein "Desinteresse für gesellschaftliche Strukturen" war seine Gefährdung. Daß er "sein Amt bei Hof als verpflichtendes Ehrenamt" (391) empfand, gehört der Vergangenheit an.

Eine Nachbemerkung: Der Vf. kennt offenbar die Geschichte des Wiederaufbaus des Berliner Doms zwischen 1972 und 1989 nicht und nennt den heutigen rheinischen Präses irrtümlich "Präses der EKU" (3).