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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1277-1279

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Conrad, Jörg

Titel/Untertitel:

Moralerziehung in der Pluralität. Grundzüge einer Moralpädagogik aus evangelischer Perspektive.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 316 S. gr.8° = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 12. Kart. EUR 39,95. ISBN 978-3-451-29958-2.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

»Moralerziehung in der Pluralität« ist ein Gebot der Stunde. Darin sind sich alle einig. Wie sollen denn Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu einem begründeten ethischen Urteil zu den schwierigen ökologischen, ökonomischen, globalen und religiösen Fragen unserer Zeit finden, wenn nicht mithilfe erfahrener Moralpädagogen? Das ist unstrittig. Strittig sind aber die ungelösten Fragen, die auf dem Weg einer Moralerziehung, zumal einer evangelischen Moralerziehung, liegen: Lässt der religiös-weltanschauliche Pluralismus überhaupt eine standortgebundene, z. B. evangelische Moralpädagogik zu? Oder sollte zur Moral nicht lieber multireligiös erzogen werden? Dann würden Schüler und Schülerinnen (z. B. zur Kriegsfrage) nur mehrere Positionen kennen lernen und müssten selbst entscheiden. Aber vielleicht gibt es ja doch allgemeine Moralprinzipien wie z. B. Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Nächstenliebe, Frieden, Schöpfungsbewahrung u. a., die jenseits des ethischen Pluralismus prinzipiell gelten und Grundlage und Ziel jeder Moralerziehung sein könnten? Dann brauchte evangelische Moralerziehung sich nur anzudocken und nur noch einige evangelische Grundsätze hinzufügen. Wäre das nicht denkbar?
Ferner: Gehören Religion und Weltanschauung substantiell zu Moralerziehung und Moralerziehung substantiell zu Religion und Weltanschauung hinzu? Weiter: Verläuft moralische Entwicklung im Lebenslauf in allen Kulturen universell, präskriptiv und formal gleich oder unterschiedlich? Kurz: Gibt es einen allgemein verbindlichen Moral-Standpunkt oder nur viele partikular begründete Moral-Standpunkte? Beides hätte für die Moralerziehung weit reichende Konsequenzen.
Jörg Conrad stellt sich in seiner bei Friedrich Schweitzer verfassten Dissertation schonungslos diesen Fragen. Aber er bleibt allein der Theorie verhaftet und begibt sich nicht auf das Gebiet der Praxis. In brillanter theoretischer Manier referiert er die Denkschriften »Identität und Verständigung« und »Maße des Menschlichen«, vergleicht sie mit Kohlbergs großartig dargestellter Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils, konfrontiert diese mit Schleiermachers moralphilosophischen und moralpädagogischen Schriften, vertieft diese eindrucksvoll mit Taylors, Herms’ und Walzers Ethiken, und bringt alle fünf Autoren in hervorragender Weise untereinander ins Gespräch. Ein Kabinettstück! Und eine Lesefreude! Aber er bringt kein einziges konkretes Moral-Beispiel, an dem man den Sinn oder Unsinn (um nicht zu sagen: Wahrheit oder Unwahrheit) der jeweiligen Moral-Theorien prüfen könnte. Auf 306 Seiten kein einziges Beispiel – sieht man von dem Satz »Man soll nicht lügen« auf S. 238 ab. Das ist bedauerlich, denn Theorie ohne Praxisbeispiele wirkt auf dem Gebiet der Moralerziehung be­sonders »fleischlos«.
Ebenso bedauerlich ist es, dass C. nicht definiert, was er unter »evangelisch« versteht. Das Wort Rechtfertigung, die particulae exclusivae, Luthers »Freiheit von menschlichen Satzungen« oder »evangelische Freiheit« kommen nicht vor. Freilich erahnt man, was er meint: »Evangelisch« bedeutet für ihn ein allein an Christus und Gottes Offenbarung gebundener Glaube, der frei ist von Ideologien und Weltanschauungen. Doch weder benennt er diese »evangelischen Perspektiven« noch wendet er sie praktisch an. – Aber als rein theoretische Grundlegung ist die Dissertation dennoch gut gelungen. Ich versuche, ihren Ertrag zusammenzufassen:
In den oben genannten Denkschriften entdeckt C. ein Bekenntnis zum evangelischen Menschenbild, zu Gottesbezug und Schöpfungsglaube und fragt, ob dieses Bekenntnis ethische Urteilsfindung erleichtert oder erschwert. Seine Antwort ist eindeutig: Ein subjektiver Standpunkt, der die »Sprache der Moral« präge, sei erleichternd, weil es in der Moral keine Objektivität gebe. Moral gebe es nur im Plural.
Anders sei der Anspruch L. Kohlbergs, der Gerechtigkeit als ein allgemein gültiges, interkulturelles Moralprinzip verstehe, das sich im Bewusstsein jedes Menschen gleich entwickle und zu dem man universal erziehen könne. Aber Kohlbergs Universalismus-, Präskriptivismus- und Formalismus-Postulat seien ungerechtfertigt. »Kohlberg wird der Herausforderung der Pluralität nicht gerecht.« (104) Zwar erscheint es mir gewagt, Kohlberg als Neukantianer einzustufen, aber C.s Kohlberg-Interpretation ist trotzdem bestens ausgefallen.
Im Gegenzug stellt C. Schleiermacher als Vertreter einer kon­-text-, situations- und persongebundenen Ethik dar. Er geht ge­schickt und gewagt vor: Schleiermachers Kritik an Kants »reiner Vernunft«, »Pflichtenlehre« und »Prinzipienethik« verwendet er als Kritik an Kohlberg. So wie Schleiermacher an Kant kritisiert hätte, dass es kein Sollen ohne Wollen und kein gutes Handeln ohne eine subjektive »ethische Idee vom Guten« geben könne, so kritisiert er an Kohlberg, dass es keine universale Gerechtigkeitsstruktur jenseits eines religiös-weltanschaulichen Standpunktes gebe. »So kommt bei Schleiermacher nicht allein die Struktur des moralischen Urteils in den Blick (wie bei Kohlberg), sondern mit dem Handeln auch immer die Person des Handelnden.« (145) – Aus Schleiermachers pädagogischen Schriften folgert er dann, dass es die Aufgabe ethischer Gesinnungsbildung sei, zum Erfühlen der »ethischen Idee des Guten« anzuleiten.
Um Schleiermacher zu vertiefen und zu aktualisieren, greift C. anschließend auf die kommunitaristischen Ethiken von Ch. Taylor, M. Walzer und auf E. Herms zurück. Taylor betone wie Schleiermacher das Individuelle und Personelle in der Ethik. Jede Person müsse eine »Idee des Guten« entwickeln, weil es nichts objektiv Gutes gebe. Und deshalb seien Identitätsfindung und Standortselbstbestimmung Voraussetzungen für moralisches Urteilen und Handeln. Nur der Identische könne authentisch urteilen. Daraus folgert C., dass die Aufgabe von Moralerziehung darin bestehe, Identität zu fördern, das Gute zu thematisieren und moralische Differenzen herauszuarbeiten.
E. Herms, so C., erarbeite im Sinne Schleiermachers die Bedingungen ethischen Handelns. Er betone, dass Moral von der jeweiligen Person, ihrer Lebensüberzeugung und ihrem ethischen Verstehen abhinge, weil es eben keine universalen ethischen Prinzipien gebe. Das sei purer Subjektivismus? Keineswegs! Denn ethisches Verstehen, so Herms, sei ein »religiöses Offenbarungserlebnis« und fördere insofern religiöse Gewissheit. Das passt in C.s Moralpädagogik-Konzept!
Abschließend referiert C. »Sphären der Gerechtigkeit« von M. Walzer, weil Walzer die Geltungsbereiche der Moral (im Sinne Schleiermachers) erarbeitet hat. Er ist davon angetan, wie Walzer universale Gerechtigkeit als Chimäre abtut und für partikulare, situative Sphären von Gerechtigkeit eintritt. Genau das sei eine Fortsetzung Schleiermachers! Freilich: Darüber lässt sich streiten! Aber über die Art, wie C. Kohlberg, Schleiermacher, Taylor, Herms und Walzer ins Gespräch bringt, nicht. Das ist gut gemacht!
Ich gestehe, dass ich einen der letzten drei Autoren lieber durch D. Bonhoeffers »Situations-Ethik« ersetzt hätte, die m. E. Schleiermacher ebenfalls vertieft und besser zur »evangelischen Perspektive« gepasst hätte als Taylor und Walzer. Aber das ist Einschätzungssache. Auch in der vorliegenden Autoren-Auswahl ist das Buch eine gute theoretische Grundlegung einer evangelischen Moralpädagogik. Es fehlt die Praxis. Diese könnte in einem weiteren Buch (Habilitation?) nachgeholt werden.