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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1273-1275

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weiher, Erhard

Titel/Untertitel:

Das Geheimnis des Lebens berühren – Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. 2., durchges. u. erg. Aufl.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 357 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-17-021084-4.

Rezensent:

Martina Plieth

Das Thema »Spiritualität« ist zurzeit in aller Munde, aber längst nicht immer wird es so detailliert und differenziert bearbeitet wie in dem von Erhard Weiher vorgelegten Band »Das Geheimnis des Lebens berühren«. Mit großer Sachkenntnis und vor allen Dingen erheblichem Erfahrungswissen nähert sich W. der Situation kranker und sterbender (also auf den Tod zu lebender) Menschen an. Er fragt nach ihren spirituellen Bedürfnissen und gibt praxisbewährte Tipps, diese wahrzunehmen und ihnen in adäquater (d. h. lebensförderlicher) Weise zu entsprechen. Das, was dabei herausgekommen ist, wird im Buchvorwort als »Grammatik« (5) bzw. »Sprach- und Übersetzungshilfe für die … innerste Dimension im Menschen« (5) bezeichnet. Und genau so kann es auch nach Lektüre des gesamten Werkes gesehen werden: Leserinnen und Leser bekommen mit der W.schen Publikation eine Art »Regelwerk« für die spirituelle Begleitung bei Krankheit, Sterben und Tod an die Hand und werden dafür sensibilisiert, in ihrem alltäglichen Arbeits- und Begegnungs(er)leben im seelsorg(er)lichen, aber auch medizinisch-pflegerischen Bereich spirituelle Seiten bei anderen und bei sich selbst zu entdecken.
Im ersten Teil des Buches (Spiritualität, Kontexte und Verortungen, 21–76) wird vor allen Dingen am komplexen Bedeutungsspektrum des Begriffes »Spiritualität« gearbeitet. W. legt Wert darauf, deutlich zu machen, dass Spiritualität nicht einlinig zu verstehen ist, sondern als Sammelchiffre für »jede – positive wie negative – Erfahrung, bei der sich der Mensch mit dem Geheimnis des Le­bens– als heiligem Geheimnis – in Verbindung weiß« (27). Er sieht dabei Religion als »Gefäß für Spiritualität« (30) sowie Ausdruck der grundsätzlichen Bereitschaft und Fähigkeit des Menschen, sich mit einer höheren Instanz in Beziehung zu setzen (vgl. 31), und Glauben als »persönliche Aneignung religiöser Inhalte« (32) oder auch »Zustimmung zu der von den Inhalten gemeinten Sinndeutung« (32). So verstanden sind Spiritualität, Religion und Glauben gerade in Krisenzeiten, wie sie unter Umständen durch Krankheit, Sterben und Tod hervorgerufen werden, als wichtige Ressourcen für Lebensbewegungen und Lebensbewältigung zu nutzen, ob­wohl sie bisweilen auch hemmende oder schädigende Auswirkungen haben können. Weiterführend sind in diesem Zusammenhang auch die von W. gemachten Anmerkungen zu den Stichworten »Ethik« und »Seele« (55 ff.). Sie bewegen sich ebenfalls in konzen­trischen Kreisen um die Frage nach dem Geheimnis des Lebens bzw. die Frage danach, wie dieses Geheimnis würdevoll gewahrt und angemessen verstanden werden kann.
Im zweiten Teil des Buches (Konkretisierungen, 77–161) wird Spiritualität als »Lesekunst« bzw. »Begegnungsgröße« vorgestellt und als wesentliches Element zwischenmenschlicher Kommunikation gekennzeichnet. Unterschiedliche Arten menschlichen Ausdrucks und menschlicher Wahrnehmung (z. B. im Umfeld des sich Einlassens auf Symbole und Rituale) werden beschrieben und daraufhin befragt, welche Bedeutung oder auch Wirkung sie im Rahmen von spiritueller Begleitung haben können. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die häufige Verwendung einer – zumindest aufs erste Lesen bzw. Hören hin – ungewöhnlichen Metapher. W. spricht von Symbolen und Menschen als »Containern«. Er be­tont, dass es dabei nicht um Abwertung, sondern um Aufwertung des jeweils Gemeinten gehe, und beschreibt die positiven Auswirkungen der Tatsache, dass der vielfältige Reichtum des Lebens von unterschiedlichen abstrakten oder auch personalen Größen aufgenommen und im Rahmen von helfenden Maßnahmen zielgerichtet freigesetzt werden kann. Wer sich darauf einzulassen vermag, wird mit dem ansonsten recht technizistisch-funktional klingenden Container-Begriff durchaus zurechtkommen.
Im dritten Teil des Buches (Themen der spirituellen Begleitung, 163–246) werden wesentliche Themenbereiche spiritueller Begleitung angesprochen und so vorgestellt, dass Menschen, deren Aufgabe darin besteht, Kranke und/oder Sterbende bei ihren Lebensbewegungen zu unterstützen, konkrete Hilfen für ihren Arbeitsalltag erhalten. Es geht dabei um die verschiedenen Dimensionen von Leidbegegnung und Trost, aber auch um spirituelles Leid, das im Umfeld von Schmerzen, Sinn- und Sinnlosigkeitserfahrungen, Warum-Fragen und Schuldgefühlen aufbricht. Auch in diesem Zusammenhang taucht die »Container-Metapher« an mehreren Stellen wieder auf; diesmal wird sogar Gott als »höchster Ar­chetyp« und »umfassendster Container« bezeichnet (vgl. 203). Das klingt erneut etwas befremdlich, kann aber im Kontext des ansonsten Ausgeführten durchaus nachvollzogen werden. Eine weitere – vielleicht ein wenig schneller zugängliche – Metapher, die eingeführt wird, ist die des Helfenden als »Tanzkundigem« (vgl. 16 5f.). Dabei geht es um den »Tanz der Betroffenheit«, den Seelsorgerinnen und Seelsorger, aber auch medizinisch-pflegerisch Tätige mit von Krankheit, Sterben und Tod Affizierten auf der »Hinterbühne« des alltäglichen Geschehens ihres (Er-)Lebens »tanzen«, also um rollenspezifische Bereitschaft und Fähigkeit zum empathischen »Mitgehen« bzw. zum sich Einstellen auf den Rhythmus einer/ eines Anderen in für sie bzw. ihn schwierigen Zeiten.
Im vierten – etwas irritierend mit »Kapitel 6« überschriebenen – Teil des Buches (Spiritualität und Religion am Ende des Lebens, 247–337) rückt der Tod als große existenzielle Herausforderung in den Blick. Unterschiedliche Formen der durch sein Herannahen bzw. Hereinbrechen ausgelösten Trauer und verschiedene Möglichkeiten von »Trauer-Begegnung« werden anschaulich und nachvollziehbar konturiert. Die in Bezug auf Letztere explizierten Zentralbegriffe lauten – zuvor Geäußertes aufgreifend – »Containing«, »Resonanz« und »Haltefunktion«. Wo sie angemessen durchdekliniert bzw. konkretisiert werden, entsteht nach Aussage von W. auf der Grenze zwischen Leben und Tod eine realistische Chance, mitsamt dem je eigenen Lebensgeheimnis getröstet bzw. getrost in das große Geheimnis Gott hineinzusterben und in ihm in Ewigkeit bewahrt zu bleiben. (vgl. z. B. 259). Wie eine konzise Zusammenfassung dieses Diktums erscheint das zu Beginn des vorletzten Buchkapitels fast beiläufig angeführte Rahner-Zitat »Nur das Geheimnis tröstet«. (304); in ihm liegt ganz offensichtlich der Schlüssel zum cantus firmus der W.schen Publikation.
Abschließend sei noch auf eine Besonderheit des besprochenen Buches hingewiesen, die seine Lektüre sowohl erschweren als auch erleichtern kann: Die sieben Unterkapitel in den insgesamt drei Hauptteilen sind in sehr kurze Passagen, deren Anfänge jeweils gefettet gleichsam als Überschrift fungieren, unterteilt. Wer das Buch en bloc lesen möchte, könnte sich dadurch möglicherweise gestört fühlen; wer nach bestimmten Themenkomplexen sucht, kann sich gerade aufgrund der minuziösen Binnengliederung sehr gut orientieren und findet leichter zum Ziel. Letzteres dürfte vor allen Dingen dann hilfreich sein, wenn »Das Geheimnis des Lebens berühren« als eine Art Lehr- oder Lernbuch für Helfende an der Seite von Kranken und Sterbenden zum Einsatz kommt und zur Auseinandersetzung mit bzw. zur Aneignung von zentralen Wissenseinheiten zum Oberthema »Spiritualität – Spirituelle Begleitung in besonderen Lebenssituationen« verwendet wird.