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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1269-1271

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Feichtinger, Barbara

Titel/Untertitel:

Liturgie und soziales Handeln. Afrika­nische Praxis als Inspiration.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 391 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 93. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-020437-9.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

Die Arbeit stellt eine liturgiewissenschaftliche Dissertation bei Albert Gerhards in Bonn dar. Sie ist in mehrfacher Hinsicht innovativ. Sie ist erstens in der noch jungen Forschungsrichtung der vergleichenden Liturgiewissenschaft ein Meilenstein. Sie wagt zweitens einen Crossover zwischen den Disziplinen Diakonie- und Liturgiewissenschaft. Sie fußt auf einem radikalen Ernstnehmen der Liturgiekonstitution des 2. Vatikanum. Sie enthält viele Vorschläge zur Liturgiereform, grundsätzlicher wie konkreter Natur. Sie ist schließlich deshalb auch für eine ökumenische Liturgiewissenschaft von großem Interesse.
Gegenstand der Arbeit ist ein doppelter: Zum einen wird die häufig vernachlässigte Verbindung von Diakonie und Liturgie grundlegend in ökumenischem Horizont aufgearbeitet. Zum an­deren wird eine bestimmte Gottesdienstkultur in Afrika vorgestellt und daraufhin befragt, wie diese den deutschen Kontext befruchten könnte. Dabei könnte der Unterschied beider Gottesdienstkulturen kaum größer gedacht werden, handelt es sich dabei doch um die St. John’s Gemeinde in Korogocho, dem größten und ärmsten Slum Nairobis. Doch bevor F. hier zu weiterführenden Vergleichen kommt, erarbeitet sie sich zunächst eine praktisch-theologische Grundlegung.
Ausgehend von der vergleichenden Theologie Adolf Exelers greift sie Friedrich Lurz’ Plädoyer für eine ökumenische Liturgiewissenschaft auf und erweitert diese in Richtung auf eine vergleichende Liturgiewissenschaft, die nun auch nordatlantische und afrikanische Liturgik miteinander fruchtbar in Beziehung setzt. Die Feier des Paschamysteriums in der Tradition der römischen Liturgie bildet hierbei den Vergleichspunkt, wird diese doch sowohl in Korogocho als auch in Deutschland je auf ihre Weise inkulturiert und kontextualisiert. Dabei werden nicht nur schriftliche Dokumente zu Rate gezogen, sondern auch die Erlebnisse und Erfahrungen, die F. während eines Aufenthaltes in Korogocho zwischen 1997 und 1999 gemacht hat.
Zunächst erörtert F. jedoch in einem 1. Teil die notwendige »Wiedergewinnung der diakonischen Dimension in der Gemeindepraxis und speziell in der Liturgie« (33–104), wie sie durch das 2. Vatikanum gefordert ist, aber sich noch wenig durchgesetzt hat, was unter anderem an dem immer noch wirksamen Einfluss diakonievergessener scholastischer Theologie liegt. Mit der von Ottmar Fuchs geforderten Gleichwertigkeit von Orthodoxie und Or­thopraxie sowie dem nicht bevormundenden Diakoniekonzept von Hermann Steinkamp kommt sie zu einer politischen Diakonie, die nicht nur für Korogocho hilfreich ist. Sodann arbeitet sie mit Klemens Richter, Hans Bernhard Meyer, Benedikt Kranemann, Marianne Heimbach-Steins und Georg Steins den Diskurs auf, der Liturgie und Diakonie wieder zusammenzudenken versucht, wo­bei die protestantische Diskussion hierbei ebenso mit berücksichtigt wird wie die US-amerikanische und die orthodoxe Liturgik (Ion Bria/Alexandros Papaderos) sowie die asiatische Befreiungstheologie (Tissa Balasuriya). So wird deutlich, dass Liturgie und Diakonie untrennbar zusammengehören, was sowohl biblisch als auch kirchengeschichtlich flankiert wird. Die Liturgie setzt die Diakonie voraus und führt wieder auf sie hin. Sie »enthebt die Diakonie dem Zwang, das Heil selber leisten zu müssen« (58). Schließlich fragt F. nach »Impulsen für soziales Handeln aus der Liturgie« (63). Mit Jürgen Moltmann, Angelus A. Häussler und Benedikt Kranemann findet sie solche Impulse in der Anamnese. Mit der Liturgiekonsti­tution (Stanley Hauerwas, Don E. Saliers, Mark Searle und Bernd Wannenwetsch) zeigt sie die das Leben formende und bildende Kraft der Liturgie. Mit Richard Schaeffler, Victor Turner sowie James L. Empereur und Christopher G. Kiesling werden solche Impulse als Unterbrechung greifbar. Schließlich wird »die Kon­-trastierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Liturgie« zur Sprache gebracht – sei es als Gegenspiel (Karl-Heinrich Bie-ritz), als befreiendes Fest (Moltmann), als »world-making« (Walter Brueg­gemann), als gefährliche Erinnerung (Johann Baptist Metz) oder als subversive memoria (Norbert Greinacher).
Der 2. Teil beschreibt die Gemeinde St. John in Korogocho in ihrem Kontext sowie in ihrer liturgischen und diakonischen Praxis (105–137). Die Lebensverhältnisse in Korogocho sind dabei schlicht erschütternd in jeglicher Beziehung. Erst nach einer solchen Kontextbenennung lassen sich ausgewählte liturgische Feiern ausführlich darstellen und analysieren (138–237). Dabei erweist sich Kontextanalyse als unabdingbar für das Verstehen von Gottesdiensten. Dies hebt ins Bewusstsein, dass solche Kontextanalysen ein wesentliches Element für alle Gottesdienstbeschreibungen und diesbezügliche hermeneutische Bemühungen sein sollten. Bei den ausführlichen Einzelanalysen stehen drei Gottesdiensttypen im Zentrum: zum einen die Feier der sonntäglichen Gemeindemesse, zum anderen das österliche Triduum und schließlich eine differenzierte Krankenliturgie, die zum Teil mit einer hohen Beteiligung von Laien täglich gefeiert wird und den gesamten Themenkomplex Krankheit und Heilung sehr eindrücklich zur Geltung bringt. So kommen unterschiedliche Zeit- und Raumformate in den Blick, bei denen jeweils gefragt wird, ob und wie sie oder einzelne Elemente, Strukturen bzw. Dimensionen für das Feiern von Gottesdiensten in Deutschland fruchtbar gemacht werden können. In der »Analyse der Verbindung von Liturgie und Diakonie in den Gottesdiensten von St. John’s« (238–256) zeigt sich in allen Gottesdienstformaten eine hohe Eigenverantwortung und Beteiligung aller Gottesdienstfeiernden, was in einer Unterdrückungssituation wie in Korogocho schon ein großer erster Schritt aus der Depression heraus ist. Es wird plausibel, wie und warum die Ostervigil als öffentliche Feier der Befreiung erlebt werden kann und dass die »Krankenliturgie als Diakonie« (253) verstanden werden muss.
Der 3. Teil versucht »Inspirationen« zu benennen »für die Liturgie im deutschsprachigen Raum durch die liturgische Praxis von Korogocho« (257–334). Dies beginnt mit dem »Bezug des Gottesdienstes zum konkreten Leben« (258) und stellt »lebendige Diakonie als Kriterium für eine lebendige Liturgie« (266) dar. Dieser Punkt ist besonders interessant, weil er zeigt, dass und warum die uns durch die Professionalisierung und Spezialisierung der Diakonie in vielen Punkten verloren gegangene Gemeindediakonie unsere Gottesdienste so viel ärmer macht! F. benennt dabei auch konkrete Initiativen, wie solche Verbindungen von Diakonie und Liturgie auch in Deutschland wieder gelingen können, z. B. durch die vierteljährlich stattfindende Mahnwache vor der Abschiebehaft in Berlin-Köpenick (276 f.). Sie zeigt, dass »der Gottesdienst als Modell für die christliche Praxis« (278) erkenn- und erlebbar sein muss, wobei die »aktive Teilnahme« (284) (participatio actuosa) grundlegend ist, die in »die Verwirklichung der Gemeinschaftsdimension des Gottesdienstes« (296) mündet, für die die »Entfaltung der Zeichenhaftigkeit« (321) ein wesentliches Element beinhaltet. Alles zusammen gipfelt schließlich in der »Sakramentalität des Nächsten und der versammelten Gemeinde« (328).
Das Buch beeindruckt durch vielfältige gesättigte Erfahrungen. Es zeigt an vielen zentralen Punkten eine große Nähe zu den sieben Kriterien des Evangelischen Gottesdienstbuches. Es ist faszinierend, einen plausiblen Gottesdienstreformvorschlag zu lesen, der ohne milieutheoretische Überlegungen auskommt. Dies markiert aber zugleich auch die Grenze dieses Buches in Bezug auf Deutschland. Insbesondere die Versuche der Gemeinschaftsverwirklichung müssen sich m. E. einer milieutheoretischen Differenzierung noch einmal aussetzen, denn was für die einen Gemeinschaft ist, ist für andere schlicht anonym oder im umgekehrten Falle aufdringlich. Hier ist eine ebenso intensive Kontextanalyse gefragt wie in Korogocho, was aber den Wert dieses spannenden Crossover keinesfalls schmälert.