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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1266-1269

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schori, Kurt

Titel/Untertitel:

Kinder in Familienritualen. Zur kindlichen Erfahrung von Religion in rituellen Prozessen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 220 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 99. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-020798-1.

Rezensent:

Christian Grethlein

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Baumann, Maurice, u. Roland Hauri [Hrsg.]: Weihnachten – Familienritual zwischen Tradition und Kreativität. Stuttgart: Kohlhammer 2008. 232 S. m. 21 Abb. gr.8° = Praktische Theologie heute, 95. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-17-020560-4.
Müller, Christoph: Taufe als Lebensperspektive. Empirisch-theologische Erkundungen eines Schlüsselrituals. Stuttgart: Kohlhammer 2010. 300 S. m. Abb. gr.8° = Praktische Theologie heute, 106. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-17-020970-1.


Die drei Bände präsentieren Ergebnisse aus dem großen, vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt des Berner Instituts für Praktische Theologie »Religiöse Dimensionen und intergenerationelle Bezüge«. Dieses im Kontext der um­fassenderen Forschungen zu »Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel« (NFP 52 der genannten Förderinstitution) lozierte Projekt zeigt in erfreulicher Weise, wie Praktische Theologie fundierte Beiträge zu empirischen Forschungen leisten kann. Zugleich werden aber auch – und dies ist keineswegs geringer zu veranschlagen – Grenzen gegenwärtiger praktisch-theologischer Forschung deutlich, an denen zukünftig zu ar­beiten ist.
Das praktisch-theologische Forschungsprojekt umfasste folgende Teilprojekte: Kirchliche Ritualpraxis und Lebensstil (Survey A); Taufe; Weihnachten; Abendrituale; Religiosität, Rituale und Wohlbefinden in jungen Familien der Deutschschweiz (Survey B); Kinder und ihre Perspektiven. Die den drei konkreten Ritualen gewidmeten Untersuchungen basieren wesentlich auf qualitativem Material; die Surveys liefern dazu quantitative Einsichten. Sekundäranalytisch geht die Studie zur Kinderperspektive vor. Den gemeinsamen Rahmen gibt der Bezug auf das Forschungsfeld der Ritualstudien. Dazu treten vor allem Kindheits-, Familienforschung sowie Methoden aus der empirischen Sozialforschung.
Schon im ersten, dem Weihnachtsfest gewidmeten Band treten Vorzüge und Schwächen hervor. Neben einem einführenden Betrag, der eine Übersicht zum Projekt gibt, und einer mit »Diskussion« überschriebenen Auswertung, die die Ergebnisse unter dem Ge­sichtspunkt »Postmoderne Religiosität und Praktische Theologie« reflektiert, finden sich sechs von unterschiedlichen Autoren verfasste Beiträge. Sie zeigen die Bedeutung eines multiperspektivischen Zugangs, der allein der Komplexität des Forschungsgegenstandes »Weihnachten« gerecht wird. Grundsätzliche Orientierung gibt Roland Hauri (im 3. Kapitel) durch eine Zusammenstellung von wichtigen Ergebnissen aus einer 2005 durchgeführten schriftlichen Befragung von Familien mit sechs- und neunjährigen Kindern in der Deutschschweiz. Durch den familiensoziologischen Ausgangspunkt, Familien als Konfigurationen (und nicht etwa – wie früher weit verbreitet – als Haushalt) zu konzipieren, wird das Bild mehrdimensional. Vor allem die Großeltern kommen als nicht unwichtige Akteure mit in den Blick. Dazu begegnen in den meisten Familien mehrere Weihnachtsfeiern, wobei die Hauptfeier regelmäßig die Elemente Christbaum, Geschenke und Festessen umfasst.
Diese Stabilität ermöglicht zugleich die dynamische Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen durch familiäre Veränderungen (wie Tod, Scheidung, Geburt). Die weiteren Beiträge fokussieren jeweils Einzelthemen in auch formal durchaus unterschiedlicher Weise. Dadurch entsteht ein buntes Bild des heutigen Weihnachtsfestes in deutschschweizer Familien, ohne dass aber stets der ge­naue Bezug zum Datenmaterial deutlich würde. Im Vorwort heißt es: »Die Auswertung der Daten haben wir mit bestem Gewissen und sachlicher Akribie durchgeführt. Wir können nur hoffen, dass die Leserinnen und Leser uns diese sorgfältige Bearbeitung der Daten zutrauen.« (12) Dies klingt sympathisch offen, ist aber wissenschaftlich unbefriedigend.
Eine eigene Perspektive zieht die sekundäranalytische Studie von Kurt Schori in das Projekt ein. Er will herausfinden, »was sich aus dem Blick- und Erlebniswinkel von Kindern im Verlaufe eines Rituals abspielt« (18). Nach einer Einleitung, die vor allem die entwicklungspsychologischen und ritualtheoretischen Aspekte der Studie thematisiert, werden je am Beispiel eines Abendrituals, eines Weihnachtsfestes und einer Taufe (von Geschwistern) Tiefenbohrungen unternommen. Schori kann dabei sehr eindrücklich zeigen, wie bestehende Konflikte ein Ritual (mit)prägen können und welche integrierende und formierende Dynamik dieses entwickeln kann. Bestechen in diesem Teil des Buchs die Lebensnähe und Präzision der Beobachtungen sowie die Originalität der Deutungen, so bewegt sich der dritte Teil »Die theoretische Verarbeitung der Untersuchung ›Kinder in Ritualen‹« in abstrakteren Gefilden. Nur manchmal und teilweise ist noch ein Zusammenhang mit den empirischen Befunden zu erkennen. Gewiss sind die relativierenden Hinweise zum Aussagewert von Kinderäußerungen wichtig – sie »sind Resultate der Interaktionen, die sich zwischen den Kindern … und den Forschenden … abspielen« (123). Doch könnten sie der Erdung der dann doch recht hochfliegenden theoretischen Überlegungen dienen.
Durchgehend an den empirischen Befunden orientiert ist dagegen die Monographie Christoph Müllers zur Taufe. Auf einem eindrücklichen, allerdings nur grob skizzierten Theorie-Hintergrund (»Bezugstheorien«, 23–27) wird Taufe aufgrund von halbstandardisierten leitfadenorientierten Interviews vor allem mit Taufeltern, mittels teilnehmenden Beobachtungen (einschließlich Videoaufnahmen) bei Taufgottesdiensten und in der kirchlichen Unterweisung sowie Experten-Interviews mit Pfarrern und Pfarrerinnen analysiert. Dabei tritt – im Gegensatz zu den beiden anderen Bänden – immer wieder deutlich ein handlungsorientierendes pastorales und (im guten Sinn) magistrales Interesse zutage. So kann der Band auch abseits des empirischen Forschungsprojektes als eine exzellente praktisch-theologische Monographie zur heutigen Taufpraxis mit praktischer Ausrichtung gelesen werden.
Im Einzelnen rekonstruiert Müller das vorliegende Material unter den Gesichtspunkten des Rituals und Ritualzusammenhangs, der biographischen, familiären und transfamiliären Di­mensionen sowie eines Verständnisses von Taufe anhand des Konzeptes der »Schlüsselszene«, das die gegenseitige Erschließung von »elementare[r] Erfahrung der Beteiligten und christliche[r] Traditionen« (178) zum Ausdruck bringt. Dann werden knapp Ergebnisse aus der quantitativen Untersuchung genannt sowie einige Beobachtungen zur Tauferinnerung angeschlossen. Der Band mündet in eine systematisch orientierte Fokussierung auf ein Verständnis der Taufe als »Lebensperspektive«.
In absehbarer Zeit soll noch ein von Christoph Morgenthaler verfasster Band zu den »Abendritualen« in derselben praktisch-theologischen Reihe erscheinen. Eine nicht zuletzt die innovative Methodik präsentierende Vorschau ist bereits in Aufsatzform er­schienen (Pastoraltheologie 97 [2008], 168–185).
Schon jetzt kann man aber den Schweizer Kolleginnen und Kollegen zu ihrer vorzüglichen Forschungsleistung gratulieren. Entgegen immer noch verbreiteter Abfall-Theorien zeigt ihr genauer empirischer Blick, welche Bedeutung traditionell christlich geprägte Rituale für die Mehrzahl der deutschschweizer Familien haben. Dazu machen sie ansatzweise auf das Gewicht des jeweiligen Kontextes für die konkrete Ritualgestaltung aufmerksam. Es zeigt sich u. a., dass die Rituale wohl nicht zuletzt deshalb so attraktiv für (vorwiegend junge) Familien sind, weil sie von diesen in kreativer Weise gedeutet werden; das traditionell kirchliche Verständnis leistet dazu einen Beitrag, stellt aber nicht mehr den normativen Rahmen dar. Insofern ist das Projekt auch ein wichtiger Beitrag für eine Kirchentheorie, die sich aus systematisch-theologischen und/oder pastoraltheologischen Engführungen befreit und bereit ist, religionsproduktive Entwicklungen im Alltag positiv aufzunehmen.
Wie bei jedem innovativen Forschungsvorhaben bleiben Fragen, die Impulse zur Weiterarbeit geben können.
Zuerst zu Darstellung und Methodik: Dringend sollten die vielfältigen Daten des Projektes interessierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zugänglich gemacht werden. In den drei hier angezeigten Bänden sind Daten und Deutungen untrennbar in­einander verwoben. Auch ist der Zusam­menhang zwischen den quantitativ ausgerichteten Surveys und den qualitativen Interviews nicht durchschaubar. Damit ist das Gewicht einzelner Äußerungen kaum kritisch einzuschätzen. Insgesamt wird so eine alternative Lesart der Daten unmöglich ge­macht.
Inhaltlich bleibt das das Projekt leitende Religionsverständnis unklar. Zwar finden sich wiederholt wichtige und anregende Überlegungen hierzu (z. B. bei Schori, 131–135; Müller, 163–165), doch fehlt nach Eindruck des Rezensenten eine die verschiedenen Projektteile integrierende Rahmentheorie. Es wäre gewiss lohnend, vor dem Hintergrund des empirischen Materials noch einmal bestehende religionstheoretische bzw. -hermeneutische Ansätze unterschiedlicher Provenienz (etwa Glock, Riesebrodt, Sundermeier, Taylor) auf ihre Erschließungskraft für praktisch-theolo­gische Theoriebildung hin zu durchmustern.
Wie fast durchweg bei empirischen Studien in der (evangelischen) Praktischen Theologie stehen Menschen der Mittelschicht im Mittelpunkt. Die nach Aussage der Sozialstatistiken anwachsende Zahl armer und kulturell segregierter Menschen taucht nicht bzw. kaum (s. als Ausnahme z. B. Müller, 189) auf.