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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1263-1264

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thies, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Wert der Menschenwürde.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 248 S. 8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-506-76715-8.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Der von Christian Thies herausgegebene Band »Der Wert der Menschenwürde« versammelt die Beiträge einer Ringvorlesung mit dem Titel »Würde und Werte«, die im Frühjahr 2007 in Hannover veranstaltet wurde. In Titel und Einleitung des Bandes wird der Begriff der Menschenwürde als ein evaluativer Begriff gefasst. Die Intention des Herausgebers ist es, Menschenwürde als ein Wertfundament zu begründen, welches der Ausgestaltung gesellschaftlicher Interaktions- und Handlungsspielräume durch rechtliche und moralische Normen zugrunde liegt.
In der Einleitung schreibt er der Menschenwürde aber auch die Funktion eines normativen Prinzips der Handlungsorientierung zu und insinuiert damit, dass zwischen evaluativen und normativen Begrifflichkeiten in Bezug auf die Menschenwürde problemlos gewechselt werden kann. Als Beispiel mögen die folgenden Sätze dienen: »Die Menschenwürde … ist der absolute Wert, an dem wir uns in unserem Handeln orientieren sollten. Etwas anders formuliert: Die Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten, ist das Fundament, auf das sich alle anderen … Normen stützen« (7). Hier wird nun die Differenz zwischen einem weltanschaulich oder deskriptiv begründeten Wertfundament und einem normativen Prinzip der ethischen Urteilsbildung, das durch eine ethische Theorie begründet wird, ausdrücklich verschliffen. Auch die angesprochene Differenz zwischen Normen und Werten wird vom Herausgeber nirgends diskutiert. Er scheint sich jedoch implizit der Auffassung anzuschließen, dass Werte übergeordnete Handlungsorientierungen des Individuums sind, die sich in Normen und Regeln aufseiten der kollektiven Handlungsorientierung konkretisieren lassen. Eine Differenzierung der terminologischen Fragen bzw. eine Reflexion auf die unterschiedlichen Zuordnungsmöglichkeiten der Begriffe wäre für die Einleitung insgesamt von Vorteil gewesen. Stattdessen werden in ihr vier Problembereiche (Be­grün­dung, Universalität, Anwendung und Absolutheit der Menschenwürde) benannt, nach denen die philosophischen, rechtswissenschaftlichen und theolo­gischen Beiträge des Bandes angeordnet sind.
Die Aufsätze von H. Schnädelbach, L. Honnefelder und F. J. Wetz im ersten Teil diskutieren, in welchem Sinne Menschenwürde überhaupt als Wert moralischer Handlungsorientierung und öf­fentlich-rechtlicher Ausgestaltung von Gesellschaft zu bezeichnen ist. So unterzieht Schnädelbach vor allem den Werteobjektivismus und die an ihn anknüpfende »Werte-Rhetorik« einer schneidenden Kritik. Werte seien nicht als »simple feststellbare Tatsache« (30), sondern als normative oder evaluative Zuschreibungen an Tatbestände zu rechtfertigen. Honnefelder und Wetz diskutieren demgegenüber das Verhältnis der Würde zu den Menschenrechten. Während Honnefelder dafür plädiert, dass der Wert der Menschenwürde eine fundierende Funktion für die Menschenrechte und eine explizierende für das moralische Selbstverständnis hat, möchte Wetz auch das Verhältnis zu den Menschenrechten auf eine explizierende Funktion der Menschenwürde begrenzen. Sachgemäß hätte wohl der Aufsatz von W. Vögele, der die Anschlussfähigkeit christlicher Begründungen der Menschenwürde im interdisziplinären und interreligiösen Diskurs prüft, noch in diesen Teil des Bandes gehört, da er sich als Gegenposition zu Wetz entwirft.
Die Aufsätze von Th. Rensmann und H. Barth im zweiten Teil befassen sich mit der fortschreitenden Pluralisierung der Auslegung von Menschenwürde als universalem Rechtsbegriff. Während Rensmann dafür argumentiert, die Universalität nicht durch die exklusive Rechtsauslegung des Verfassungsgerichts zu definieren, sondern in der Pluralität des demokratischen Diskurses zu verorten, spricht sich Barth dafür aus, das »Leitbild« der Menschenwürde nicht durch eine pluralistische Ausdeutung zu schwächen.
Die im dritten Teil unter dem Oberthema »Anwendungsfelder« zusammengefassten Texte verlassen nun deutlich den mit der Einleitung gegebenen Rahmen von der Menschenwürde als Wertefundament. Sie wählen einen deskriptiven Zugang, indem sie Menschenwürde nicht als absoluten Wert, sondern als individuelle Eigenschaft bzw. Fähigkeit des Menschen (J. S. Ach, C. Mieth), als Gattungseinheit seiner Spezies (B. Taureck) oder als moralische Qualität gesellschaftlicher Arbeitstätigkeit (H.-J. Große Kracht, Th. Meireis) rechtfertigen wollen. Bedauerlich ist, dass in den diesen Teil abschließenden Aufsätzen zumindest textimmanent ein ausdrücklicher Bezug auf die Menschenwürde-Debatte fehlt. So vertritt D. Birnbacher seine These, dass das Recht auf einen selbstbestimmten Tod auch eine moralische Verpflichtung der Beihilfe zum Suizid begründen kann, ohne an irgendeiner Stelle explizit klarzumachen, ob das von ihm begründete Recht auf Sterbehilfe zu denjenigen minimalen moralischen Rechten zählt, die er anderenorts als Zusammenfassung des Menschenwürdekonzepts de­klariert hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Artikel von E. Schockenhoff, der zwar im Titel die Frage nach dem menschenwürdigen Sterben aufwirft, jedoch nicht deutlich macht, inwiefern er die von ihm vertretene Trennung zwischen autonomem und humanem Sterben anhand des Menschenwürdekonzepts systematisch be­grün­den möchte. Hier wäre eine sorgfältigere Redaktion und Er­weiterung der Beiträge für den Leser von Nutzen gewesen.
Die beiden letzten Aufsätze des Bandes (R. Bernhardt, G. Kruip) beschäftigen sich nur noch am Rande mit der Menschenwürde und entfalten stattdessen eine Theorie der christlichen Wertebildung und des interkulturellen Dialogs über Werte aus evangelischer und katholischer Perspektive. Um eine Absolutheit der Menschenwürde wird hier gar nicht mehr diskutiert. Insofern hält der Band nicht an allen Stellen, was er verspricht. Dennoch geben einzelne Texte, die sich explizit mit der Frage beschäftigen, inwiefern die Menschenwürde als ein Wertfundament unserer Gesellschaft verstanden werden kann, lesenswerte Denkanstöße.