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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1262-1263

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rolf, Sibylle

Titel/Untertitel:

Zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürde. Unterschiede beim Umgang mit menschlichen Embryonen in England und Deutschland.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus – edition chrismon 2009. 228 S. gr.8°. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-86921-007-0.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Das gut lesbare, übersichtliche Buch behandelt den Embryonenschutz und die Menschenwürde. Eingangs vergleicht es die Gesetzgebung in Großbritannien und in der Bundesrepublik Deutschland zur embryonalen Stammzellforschung (30–64). Kurz wird erwähnt, dass in Großbritannien 2008 Hybride bzw. Cybridembryonen hergestellt wurden (29). Der Hauptteil (65–198) stellt Argumente dar, die in den letzten Jahren zum Embryonenschutz und Embryonenstatus diskutiert wurden. Darüber hinaus wird eine Reihe von Denkansätzen wiedergegeben, die im mitteleuropäisch-deutschen sowie im angelsächsischen Horizont zur Menschenwürde entfaltet worden sind (klassisch: Immanuel Kant versus Jeremy Bentham und John Stuart Mill). Aus dem angelsächsischen Raum gelangen auch neuere Denkmodelle zur Sprache, so dass das Buch eine Übersicht über utilitaristisch geprägtes, empirisch und pragmatisch orientiertes angelsächsisches Denken, aber auch über dortige theologische Positionen bietet (z. B. J. Harris, J. Finnis, P. Ramsey, H. T. Engelhardt jun.). Den Abschluss bildet ein locker angefügtes Schlusskapitel, das eine evangelisch-theologische Sicht von Menschsein und Menschenwürde skizziert und den Menschen als Beziehungswesen deutet (199–214).
Diese abschließenden Überlegungen lassen den Individualitätsgedanken und die Persönlichkeits- sowie die Selbstbestimmungsrechte, die für ein heute adäquates Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten normativ zentral sind, freilich ganz in den Hintergrund treten. Auch aus anderen Gründen bleibt es fraglich, ob die Gesichtspunkte des Schlusskapitels tatsächlich den »universalen Anspruch« erheben können, auf den die Vfn. Wert legt (200, Anm. 477). Ablehnung äußert das Buch immer wieder gegenüber einem »Recht auf Gesundheit« (z. B. 211). Es bleibt hierin aber zu undifferenziert und überspielt überdies den engen Zusammenhang, der zwischen dem Recht auf Gesundheitsschutz und der Menschenwürde zu sehen ist. Mehrere Menschenrechtskonventionen und internationale Abkommen, denen auch die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, oder das Bundesverfassungsgericht erkennen dem Gesundheitsschutz inzwischen aus gewichtigen Gründen Grundrechtsrang zu.
Der Titel des Buches erwähnt explizit die Forschungsfreiheit (»Zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürde«). Dies weckt Erwartungen, die das Buch dann nur sehr begrenzt einlöst. Auf ethische oder juristische Fragen der Forschungsfreiheit, auf Kriterien der Forschungsverantwortung oder auf Probleme staatlicher oder sonstiger (z. B. industrieller) Forschungssteuerung geht das Buch nicht näher ein. Dies hätte gerade im deutsch-britischen Vergleich außerordentlich interessant sein können. Darüber hinaus bleiben die Wiedergabe und Erörterung naturwissenschaftlicher sowie juristischer Sachverhalte bisweilen ungenau. Ein einzelnes Beispiel: Es heißt, dem deutschen Embryonenschutzgesetz zufolge »dürfen nur genau so viele Embryonen [!] befruchtet werden, wie anschließend implantiert werden« (50). Korrekt handelt es sich aber um die Befruchtung von Eizellen. Zu der Bestimmung des Embryonenschutzgesetzes, die hierfür einschlägig ist (§ 1 Absatz 1 Nr. 5 in Korrelation zu Nr. 3), werden in der Bundesrepublik Deutschland seit mehreren Jahren heftige Kontroversen ausgetragen. Denn die Vorgabe des Gesetzes führt zu Mehrlingsschwangerschaften, aus denen für die Schwangere und für die geborenen Kinder gravierende Risiken und beträchtliche gesundheitliche Lasten resultieren. In anderen Staaten, auch Großbritannien, ist fortpflanzungsmedizinisch durchweg der Ein-Embryo-Transfer üblich, der in Deutschland bis heute auf gesetzliche Hürden stößt. Die gesundheitlichen Lasten, die der »starke« Embryonenschutz des deutschen Gesetzes mit sich bringt, werden im vorliegenden Buch nicht genannt.
Gegenüber humaner embryonaler Stammzellforschung (hES-Forschung) bleibt die Vfn. kritisch. Sie bezeichnet die Nutzung reprogrammierter Zellen (induzierte pluripotente Stammzellen; iPS-Zellen) als Alternative. Hierzu wäre aber zu bedenken gewesen, dass die Forschung an iPS-Zellen ohne die vorherige hES-Forschung und – auch in absehbarer Zukunft – ohne den permanenten Vergleich mit embryonalen Stammzellen gar nicht möglich ist. Informativ und anregend ist das Buch indessen auf der Grundsatzebene, indem es mehrere, auch disparate Konzeptionen der Menschenwürde vorstellt und vergleicht. Die Vfn. betont zutreffend, dass zur Menschenwürde heutzutage eine Vielfalt von Begründungsoptionen sowie ein hochgradiger Deutungs- und Auslegungspluralismus vorhanden sind (68.189). Das Gleiche betrifft das theologische Äquivalent der Menschenwürde, nämlich die Gott­ebenbildlichkeit (80). Es ist ein Verdienst des Buches, sich der Interpretationsoffenheit und -bedürftigkeit des Menschenwürdebegriffs gestellt zu haben.