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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1257-1259

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zaborowski, Holger

Titel/Untertitel:

Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person. Nature, Freedom, and the Critique of Modernity.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2010. X, 293 S. gr.8° = Oxford Theological Monographs. Lw. £ 65,00. ISBN 978-0-19-957677-7.

Rezensent:

Christian Polke

Robert Spaemann gilt als der große Konservative in der deutschen Philosophenzunft. Dabei ist das Etikett im Sinne der lateinischen Ursprungsbedeutung zu verstehen: Spaemann fühlt sich als An­walt einer Philosophie, die sich die »recollection« (24) des zu Bewahrenden zur Aufgabe macht. Deshalb ist Spaemann auch der Sokratiker unter den Gegenwartsphilosophen. Sein Denken besteht aus kritischem Fragen, abwägendem Urteil, klarer Positionierung. Die damit verbundene Skepsis hat er selbst einmal als Teil seines Naturells beschrieben. Nur was einer behutsamen, stets bedächtigen Prüfung standhält, ist der Bewahrung würdig.
Es mag von daher weniger die Art seines Philosophierens als die Konsequenz und Beharrlichkeit seiner nicht unbedingt dem Zeitgeist kompatiblen Ansichten sein, die diesen überzeugten Katho­-liken im Philosophenmantel für viele in der evangelischen Theologie suspekt erscheinen lässt. Nun ist aus der Feder des katholischen Theologen und Philosophen Holger Zaborowski eine glänzende Studie zum Werk Spaemanns verfasst worden. Z., vormals Redakteur bei Herder Korrespondenz und nun Professor an der Catholic University in Washington, D. C., geht in seiner ursprünglich als Dissertation geschriebenen Monographie zu Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person allen wesentlichen Aspekten von dessen Werk nach. Dabei liegt der Charme der Darstellung darin, dass sie uns die Kontinuität und die innere Kohärenz des Weges von Spaemann vor Augen führt. Beides teilt er mit den Altersgenossen Dieter Henrich und in bestimmter Weise auch mit Jürgen Habermas. Z. gelingt es darüber hinaus, auf diesem Wege die wichtigsten Schriften Spaemanns mit einzubeziehen – angefangen von der Dissertation über Bonald über die Studien zu Rousseau und der »Frage Wozu?« bis hin zu den mehr als nur Gelegenheitscharakter annehmenden »Christlichen Einsprüchen«, der Ethik (»Glück und Wohlwollen«), sowie der zu Recht als magistral bezeichneten Studie über »Personen« (vgl. 182). Einführende Darstellung, werkgeschichtliche Rekonstruktion und systematische Entfaltung gehen in Z.s Buch nahtlos ineinander über.
Am Anfang der Untersuchung steht Spaemanns Verständnis von Philosophie. Deren »kontroverse Natur« besteht einerseits darin, dass sie sich einer abschließenden Vereinnahmung verwehrt, indem sie auf dem Selbstevidenten im Leben und dessen »letzten Fragen« beharrt, und andererseits in der Absicht, nichts, was jemals als sinnvoll gedacht wurde, einfach als veralteten Ballast der Geschichte anheimzustellen (vgl. 35 ff.47 ff.81 ff.). Von da aus er­schließt sich der modernitätskritische Zug in Spaemanns Denken. Die Ambivalenz der Moderne, wie sie u. a. in der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer beschrieben, aber bereits im Leben Jean-Jacques Rousseaus (vor allem 119 ff.) exemplarisch sichtbar wird, resultiert nach Spaemann aus der inversion of teleology (vgl. auch 65 ff.), der Verabschiedung einer Ontologie teleologischer Strukturen der Wirklichkeit und damit der endgültigen Hiatisierung von Natur und Freiheit.
Das klassische Naturrecht als ethische Orientierungsgröße ist nur eines der Opfer dieses Prozesses. Die Folgen sind entweder die Dominanz von Naturalismus oder von dessen glattem Gegenteil, dem Transzendentalismus (Spiritualismus). Am Ende droht nichts weniger als die »abolition of man« (vgl. 2), vor der Spaemann mit C. S. Lewis in seinem ihm eigenen apodiktischen Stil warnt. Doch, wie Z. folgerichtig betont, ist dies eben nur die halbe Wahrheit. Denn der Kritik der Moderne folgt die Kritik der Gegenmoderne auf dem Fuß. Mit der Gegenaufklärung hat sich Spaemann seit seiner Dissertation und »Die Ursprünge der Soziologie aus dem Geist der Restauration« beschäftigt. Im vierten Kapitel (vgl. 136–177) erfährt der Leser, wie stark sich dessen Kritik an jeder Funktionalisierung von Moral, Philosophie und Religion der Auseinandersetzung mit jenen (neo-?) konservativen Kräften verdankt, die gerade um der Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung und der Erhaltung der wahren Religion willen die Aufklärung einer Kritik unterzogen haben. Im Prinzip liegt der Geburtsfehler schon im Reaktionismus, insofern er als Gegen-Aufklärung an der Ambivalenz der Ersteren, von der er sich absetzen wollten, partizipiert. Durch diese Kontrastrierung der Positionen bleibt Spaemann anders als etwa die Vertreter der Radical Orthodoxy (J. Milbank u. a.) davor gefeit, die Leistungen der Moderne in Gänze zu verabschieden oder zum Anwalt einer naiven Rückkehr zur Vormoderne zu werden.
Dem kritischen Teil folgt in den beiden letzten Kapiteln des Buches (vgl. 178–232 und 233–258) die Kennzeichnung des positiven Ansatzes von Spaemanns Philosophie. Diese wurzelt in einer Ontologie der Person, die mit einer Ethik des Wohlwollens korreliert. Ihre wichtigsten Lehrmeister findet sie in den beiden antiken Kirchenvätern der Philosophie, Platon und Aristoteles, sowie ihren kongenialen christlichen Nachfolgern, Augustin und Thomas. Leider wird dieser Aspekt von Z. etwas zu wenig herausgestellt. Punktgenau ist freilich die Interpretation des zu würdigenden Personenverständnisses samt des metaphysischen Realismus: Spaemann vertritt keine aristotelische Substanzontologie im Sinne der Schulmetaphysik, sondern er nimmt die Einsicht des Aristoteles ernst, dass alles Erkennen vom Verstehen des Lebendigen ausgeht und entsprechend »analog« aufzufassen sei (vor allem 206 ff.). Das Modell der Substanz ist demnach kein Ding (im Cartesianischen oder modern materialistischen Sinne), sondern eine lebendige, organische Einheit. Allen realen Dingen, im emphatischen Sinne aber Personen, kommt Selbstsein zu. Selbstsein als Grundzug der Wirklichkeit (vgl. 216 ff.) gewährleistet im Falle des Menschen, dass er als Person nicht nur Natur ist, sondern seine Natur hat. Darin liegt seine Freiheit zur Selbsttranszendenz begründet. Freiheit und Natur sind somit nicht auseinandergerissen, sondern bilden eine differenzierte Gestalt einer bestimmten Form des Lebens. »Persons as Selbstsein ... have their nature freely.« (229) Somit ist die Personennatur des Menschen die vorgängige ontologische Qualifizierung, von der aus der ethische Anruf zur Anerkennung jedes Menschen als Person qua seines Selbstseins konsequent wird. Ob sich daraus schon alle bioethischen Einzelpositionen Spaemanns zwingend ergeben, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden, vor allem weil auch Z. diese Fragen weithin ausspart. Naturphilosophie, Ontologie und Ethik bilden ein kohärentes Ganzes, dessen Wahrheitsverbürgung darin begründet liegt, dass sie den »normalen« Phänomenen von Wirklichkeit am nächsten kommen.
Eine Erörterung des Verhältnisses von Christentum und Philosophie bei Spaemann beschließt den Band. Zwischen den Zeilen kommen dabei auch die philosophischen Vorlieben Z.s selbst zum Vorschein: Er vermag es, Nähen zwischen Schellings Spätphilosophie und Spaemann zu erkennen (vgl. etwa 228.252), und zieht dabei auch mehr als einmal Verbindungen zu Heidegger (z. B. 254). Religion und Philosophie sind aufeinander bezogen und bleiben doch im Sinne des Chalcedonense »unvermischt« und »ungetrennt«. So entspringt für Z. Spaemanns orthodoxe Einstellung in Glaubensfragen dem radikalen Ernstnehmen der irreduziblen Historizität und radikalen Kontingenz von Jesus Christus als der Person gewordenen Offenbarungswahrheit (vgl. 241 f.). Spaemann wie Schelling insistieren dabei auf dem Gabecharakter aller Wirklichkeit; auf jenem Prius von Wirklichkeit als Natur, Geschichte und Freiheit, dem die Philosophie (und wohl auch die Theologie) immer nur nachdenken können. Jeder Apriorismus ist von daher ausgeschlossen.
Spaemanns Philosophie wie die Sympathie, die Z. ihr entgegenbringt, sind Bestandteil einer verzweigten »katholischen Moderne« (Ch. Taylor), die in ihrer eigenen Tradition bleibt, ohne in kritikloser Affirmation zu verharren. Das unterscheidet sie sowohl von den nach wie vor zahlreichen Fortschrittsoptimisten unserer Tage wie deren Counterparts, jenen übrigens auch im Protestantismus be­heimateten, immer stärker werdenden Modernitätsverweigerern. Spaemanns Konservativismus stellt mit seinen zahlreichen positiven Einsichten ein lange nicht mehr gehörtes Bekenntnis zu einem christlichen Humanismus dar, der sich auf die besten Traditionen innerhalb der abendländischen Philosophie stützen kann. Grund genug, sich mit ihm auch in der evangelischen Theologie genauer auseinanderzusetzen. Z. hat uns mit seinem Buch jedenfalls ein schönes Geschenk gemacht, das – gewollt oder ungewollt – ganz und gar passend erscheint in einem Melanchthonjahr.