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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1255-1257

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seibert, Christoph

Titel/Untertitel:

Religion im Denken von William James. Eine Interpretation seiner Philosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 427 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 40. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-150022-0.

Rezensent:

Gesche Linde

In den vergangenen knapp 35 Jahren hat auch in Deutschland die (global äußerst wirksame) Philosophie von William James – die sich in ihrer Gesamtheit nicht einfach unter dem spröden, mehrdeutigen und zudem oft missverstandenen Stichwort des Pragmatismus subsumieren lässt – endlich Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das zeigt sich an einer – wenngleich immer noch nicht extensiv zu nennenden – Reihe von Forschungsarbeiten, Sammelbänden und Aufsätzen, die James im Kontext nicht nur der Philosophie, sondern auch der Psychologie, der Pädagogik, der Amerikanistik oder gar der Geschichte behandeln, die ihn in Beziehung zu anderen Auto ren wie etwa Nietzsche, Wundt, Otto, Jung, Girgensohn, Scheler, Wobbermin, R. Kabisch, Renouvier, Chauncey Wright, Peirce, Royce, Mead, Dewey, Unamuno oder Nishida Kitarô setzen und die sowohl rezeptionsgeschichtlich als auch systematisch vorgehen.
Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um eine Habilitationsschrift aus dem Umfeld von Eilert Herms, der als Erster in Deutschland mit einer 1977 erschienenen und damals bahnbrechenden Arbeit (Radical Empiricism) James aus theolo­gischer bzw. religionstheoretischer Perspektive untersuchte, mit dem Interesse, nicht nur die Systematische Theologie zu internationalisieren, sondern vor allem an James einen exemplarischen (und keineswegs unproblematischen) Umgang mit dem Metaphysik-Erbe des Idealismus unter den wissenschaftstheoretischen Be­dingungen des späten 19. Jh.s zu studieren. Aus demselben Umfeld ist eine Dissertation zu Schülern und Mitstreitern James’ hervorgegangen, den Empirischen Religionspsychologen Hall, Starbuck und Leuba (Kirsten Huxel, Die empirische Psychologie des Glaubens, 2000).
Die Arbeit von Christoph Seibert nun bietet, und darin besteht ihre große Leistung, eine sorgfältige und detaillierte, zugleich stringente und stets klare, dabei kritische Gesamtrekonstruktion des – in der Gesamtausgabe der Harvard University Press 17 Bände umfassenden und von der Psychologie über die Philosophie bis zur Religionstheorie reichenden – Jamesschen Denkens bei kluger Auswahl der im Einzelnen diskutierten Texte. Als leitendes Interesse des von einer deterministischen Naturwissenschaft bzw. Psy­chologie affizierten und zugleich dennoch »nach den Möglichkeiten einer selbst verantworteten Lebensführung« (5) suchenden James identifiziert sie die Frage nach der »Wirklichkeit von Freiheit« (ebd.). Darin liegt zugleich das Motiv des Autors selbst, der auch für unsere Gegenwart, offenbar vor allem mit Blick auf die Neurowissenschaften, das Problem diagnostiziert, dass »eine wissenschaftliche Weltanschauung über die Sinnressourcen der Le­benswelt zu verfügen gedenkt« (4). In den durch jenes existentielle Anliegen James’ aufgespannten Horizont zeichnet S. dessen Philosophie ein, und zwar einschließlich der des radical empiricism, den S. als, im Unterschied zu den bekannteren Varianten des Empirismus, »Hermeneutik der konkreten Welthabe des Menschen« (12) versteht. Dies ist eine interessante, da ungewöhnliche, nämlich keineswegs auf der Hand liegende These, für die S. gleichwohl überzeugend und von den Quellen aus argumentiert: Der Empirismus wird von James als »philosophic attitude« eingeführt, als Einstellung oder Arbeitshypothese, die sich durch die zu erbringende Deutungs- bzw. Erklärungsleistung im Blick auf eine le­bensweltlich bereits erschlossene Realität zu bewähren hat und sich aus den – durchaus individuell verschiedenen, da standpunktgebundenen – Handlungsinteressen bzw. dem Engagement des deutenden Subjekts speist. Aus ebendiesem Grund wird das Phänomen der Religion von James nicht einfach ignoriert, sondern im Gegenteil, und zwar in Gestalt religiöser Überzeugungen, zum Gegenstand wissenschaftlicher bzw. philosophischer Arbeit ge­macht.
Dementsprechend liegt dem Aufbau des Buches die – m. E. völlig berechtigte – Einschätzung zugrunde, dass das Religionsthema nicht isoliert behandelt werden könne, sondern sich »in der Entwicklung der anderen Elemente seiner [sc. der Jamesschen] Philosophie wenn nicht direkt finden, so doch potentiell verorten lassen« müsse (15). Darum ist das mittlere von insgesamt drei Hauptkapiteln der Religionstheorie gewidmet und fungiert als Scharnier zwischen dem ersten, fundierenden Kapitel (»Realitätsauffassung«), das die ontologische Struktur der Handlungssituation beleuchtet, und dem dritten Kapitel (»Wahrheitstheorie«), das nach der Wahrheitsfähigkeit solcher (nämlich religiöser) Überzeugungen fragt, die über das Hier und Jetzt der jeweiligen Situation hinausreichen und Letztere in eine umfassendere Gesamtschau einbetten. Zum Vergleich: Die 2006 erschienene Dissertation von Felicitas Krämer zum Realitätsverständnis James’ ( Erfahrungsvielfalt und Wirklichkeit), eine lesenswerte und ebenfalls quellenmäßig breit angelegte Studie, erörtert ausführlich lediglich im zweiten von insgesamt fünf Hauptkapiteln die Religionsproblematik und gelangt dabei u. a. zu dem Ergebnis (oder aber legt bereits als heuristische Annahme zugrunde), dass in den Varieties ein ständiger Wechsel der Realitätskonzeptionen zu beobachten sei und das berühmte Schlusskapitel, die 20. Vorlesung, als religiöses Bekenntnis einer Privatperson gelesen werden müsse, das sich überdies inhaltlich mit James’ noetischem Pluralismus nicht vertrage; religiöse Erfahrung sei bei James letztlich nichts als »Selbsterfahrung der eigenen Gestimmtheit« (Krämer, 133, vgl. 107): Dies ist im Grunde eine Wiederholung der (seinerzeit durch Wundt scharf angegrif­fenen) Position des James-Übersetzers Wobbermin. S. hingegen gesteht zwar die semantische Diffusität zu, die sich mit den religionsphilosophischen Ausführungen James’ nicht nur in den Varieties, sondern im Gesamtwerk überhaupt verbindet, macht jedoch überzeugend geltend, dass der rote Faden in James’ Bemühen um die Erhellung jener »full personal concreteness« (304.305; vgl. 16.126) liege, welche die Gottes-Hypothese im Zusammenhang von Praxissituationen und auf Grundlage innerer Erfahrung organisch aus sich heraussetze.
Wie S. im ersten Kapitel erläutert, gehört zu den spannenden und gerade für den Religionsbegriff der Varieties folgenreichen Zügen der späten Psychologie James’, dass das Bewusstsein nicht »als Organisationszentrum des Erfahrenen« (299), sondern als »eine Funktion des Realitätsflusses« (119) verstanden wird, so dass Subjekt und Objekt, Wissender und Gewusstes einander nicht als fixe Größen gegenüberstehen, sondern als je und je aufeinander bezogene sich immer wieder neu im Prozess des Verhaltens dynamisch einstellen: James spricht von »pure experience«, und S. interpretiert diesen nicht unproblematischen Begriff als sowohl epistemologisches wie auch ontologisches »Schwellenkonzept« (107.376): Er bezeichne »die Schwelle des erwachenden Bewusstseins« von Welt (107) und zu­gleich den Punkt, »in dem sich Reales in seinen Bestimmtheiten sukzessive« (ebd.) herauszubilden beginne. Daraus ergibt sich James’ Idee eines »sich in seiner Gegenwart selbst durchsichtige[n] Be­wusstsein[s]«, das »nur ein Segment eines weitaus umfassenderen ... Bewusstseinszusammenhanges bildet« (201). Religionstheoretisch macht James diese These u. a. so fruchtbar, dass er, in protestan­tischer Tradition, die religiöse »Lebensgewissheit einer Person als rezeptiv begründet« (ebd.) betrachtet und sie als (indirekte) Folge von »Einwirkungen einer höheren Realitäts­sphäre« (208) markieren kann. Letzteres zeigt ein grundsätzliches Problem an, das jeder Import des Erfahrungsbegriffs in die Theologie mit sich zu bringen pflegt. Ausformulierte religiöse Überzeugungen ( over-beliefs) verdienen dann das Prädikat ›wahr‹, wenn sie sich als in der Lage erweisen, »den zukünftigen Erfahrungsverlauf ohne ... Frustrationen zu orientieren« (359 f.) und rückblickend »das gesamte Leben« (363) einer Person deutend zu integrieren; die Korrespondenztheorie der Wahrheit wird bei James also so gewendet, dass beliefs nicht eine subjekt­unabhängige Objektwelt repräsentieren, sondern eine, nämlich durch individuelle Praxis, stets »schon vermittelte« (353) Realität.
Besonders interessant ist, dass S. die Jamessche Religionstheorie für das Problem der Religion im öffentlichen Diskurs nutzbar machen möchte: Als Dokument eines solchen, und zwar in be­stimmter Weise beabsichtigten, Diskurses liest S. die religionstheoretischen Schriften James’, nicht zuletzt die Varieties (vgl. 293): Religion ist nicht als »Sonderphänomen« (388) zu behandeln, sondern bildet einen anthropologischen Grundtatbestand, der sich aus der Formierungsprozessen des Realen selbst ergibt und der nur unter Berücksichtigung der theoretischen Bedeutung der Ersten-Person-Perspektive angemessen thematisiert werden kann. An politischen Entscheidungsbildungsprozessen schließlich sind Überzeugungen, ob religiös oder nicht, ohnedies immer schon beteiligt, dies allerdings so, dass in solchen Überzeugungen »Momente des Nichteigenen, Fremden« (400) stets mit präsent sind und die verantwortliche Gestaltung jener Beteiligung im Sinne einer »gemeinsame[n] Kooperationspraxis« (398) zu erfolgen hat, so dass die strenge Alternative zwischen entweder einer strikten Verbannung religiöser Überzeugungen aus dem öffentlichen Raum oder aber einer unvermittelten Zulassung derselben dem tatsächlichen Sachverhalt nicht gerecht zu werden scheint.
Leider hat die automatische Silbentrennung zu zahlreichen Trennfehlern ge­führt (z. B. 27: »Binnenpers-pektive«; 33: »Gegens-tände«; 76: »unverzich-tbare«, »diszip-liniert«; etc.). Das ändert nichts daran, dass dieser vorzüglichen Arbeit viele Leser und Leserinnen zu wünschen sind.