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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1252-1255

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

Titel/Untertitel:

Briefwechsel 1800–1802. 2 Teilbde. Hrsg. v. Th. Kisser unter Mitwirkung v. W. Schieche u. A. Wieshuber. Teilbd. 1: Editorische Berichte – Briefe – Beilagen.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2010. XVII, 574 S. m. 1 Porträt u. Abb. Teilbd. 2: Erklärende Anmerkungen – Register. XII, S. 575–953. gr.8° = Historisch-kritische Ausgabe. Reihe III: Briefe, 2/1 u. 2/2. Lw. EUR 582,00. ISBN 978-3-7728-1910-0.

Rezensent:

Christian Danz

Die ersten Jahre des 19. Jh.s gehören unbestritten zu den bedeutendsten in der Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Im Zentrum der philosophischen und theologischen Debatten um 1800 stehen der Systembegriff und die mit dessen Entfaltung verbundenen prinzipientheoretischen Fragen und Probleme. Johann Gottlieb Fichte arbeitete seit der Mitte der 90er Jahre des 18. Jh.s an einer veränderten Darstellung seiner Wissenschaftslehre, deren Problemstellungen in die nach der Jahrhundertwende entstehenden späten Wissenschaftslehren einmünden, in deren Zentrum der Gedanke eines des Wissens enthobenen Absoluten steht. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hatte in den 90er Jahren des 18. Jh.s der Transzendentalphilosophie eine Naturphilosophie an die Seite gestellt und um 1800 eine neue Systemgrundlegung in einem als absolute Identität konzipierten Absoluten ausgearbeitet. Georg Friedrich Wilhelm Hegel schließlich kam im Januar 1801 nach Jena und arbeitete, zunächst im engen Austausch mit Schelling, an den Grundlagen einer Geistesphilosophie, die freilich erst viel später die philosophische Bühne betreten wird. Aber auch Kritiker der Systemphilosophie melden sich um 1800 zu Wort. Friedrich Heinrich Jacobi, Novalis, Friedrich Schlegel und auch Friedrich Schleiermacher machten gegenüber dem vermeintlichen Rationalismus des spekulativen Idealismus den Lebensbegriff als übergeordneten Bezugsrahmen geltend. Reflexion versus Un­mit­telbarkeit, so lassen sich diese Debatten in der nachkantischen Philosophie auf den Begriff bringen. Neben den Schriften der an diesen Debatten beteiligten Protagonisten bieten vor allem deren umfangreiche Briefwechsel eine unentbehrliche Quelle zur Er­schließung dieser komplexen und äußerst kontroversen Debattenlagen. Schon aus diesem Grund ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass nun der zweite Band der Reihe III: Briefe der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Friedrich Joseph Schellings (im Folgenden zitiere ich diese Ausgabe mit der Sigle AA) vorliegt.
Der Band bietet 188 Briefe von und an Schelling, darunter elf bisher nicht veröffentlichte, aus den Jahren 1800 bis 1802. Im Unterschied zum ersten Band der Reihe Briefe der Historisch-kritischen Ausgabe, der die Jahre 1786 bis 1799 umfasste und insgesamt 144 Briefe präsentierte, ist der vorliegende Band wesentlich umfangreicher. Angesichts des Umfangs des Bandes haben sich die Herausgeber, Thomas Kisser unter Mitwirkung von Walter Schieche und Alois­ Wieshuber, dazu entschlossen, den Band in zwei Teilbänden zu publizieren. Der erste Teilband enthält neben einer umfang­reichen Zeittafel, welche minutiös über den Zeitraum des Briefwechsels informiert und somit eine Einordnung der Briefe in das Zeitgeschehen ermöglicht (1–20), ein Korrespondenz-Verzeichnis (21–25) sowie umfangreiche Editorische Berichte, welche Hauptthemen der in den Band aufgenommenen Briefe sowie die einzelnen Briefpartner Schellings vorstellen (29–179), sämtliche Briefe aus dem genannten Zeitraum (183–518). Den Abschluss des ersten Teilbandes bilden ein Verzeichnis der erschlossenen Briefe (519–534), ein Stammbucheintrag Schellings für den Tübinger Studienkollegen Johann Gottlob Süskind aus dem Jahre 1795 (537) sowie Beilagen (541–574). Diese enthalten u. a. die Erklärungen August Wilhelm Schlegels sowie die Gutachten von Marcus und Röschlaub zum Tod von Auguste Böhmer in Bad Bocklet am 12. Juli 1800. Der zweite Teilband bietet die Erklärenden Anmerkungen zu den Briefen (577–859) sowie umfangreiche Verzeichnisse und Register, welche die Bibliographie, Namen, Orte, Sachen sowie Fundorte der Briefe und anderes (863–953) erschließen. Die Aufteilung des Bandes in zwei Teilbände macht es dem Benutzer der Ausgabe möglich, ohne lästiges Hin- und Herblättern die entsprechenden Erläuterungen zu den Anspielungen und Verweisen in den Briefen zu erschließen.
Zwischen 1800 und 1802 unternimmt Schelling einen Umbau seines philosophischen Systems, der in der einschlägigen Forschung und den Philosophiegeschichten als Übergang vom transzendentalen Idealismus zum absoluten Idealismus der Identitätsphilosophie gedeutet wird. Die Briefe von und an Schelling aus diesem Zeitraum, die nun in einer historisch-kritischen Standards genügenden Edition vorliegen, erschließen nicht nur den Hintergrund dieses Übergangs, sondern dürfen durchaus auch als kommentierende Erläuterungen zu den Schriften Schellings aus dieser Zeit gelesen werden. Schelling, der seit 1798 eine außerordentliche Professur für Philosophie an der Jenaer Universität inne hatte, veröffentlichte im Jahre 1800 sein System des transzendentalen Idealismus (= AA I,9), für das der Parallelismus von Natur- und Transzendentalphilosophie signifikant war. Nur ein Jahr später publizierte Schelling im zweiten Band seiner Zeitschrift für spekulative Physik einen veränderten Systementwurf unter dem Titel Darstellung meines Systems der Philosophie (= AA I,10). In dieser veränderten Systemkonzeption ist der Parallelismus von Natur- und Transzendentalphilosophie aufgegeben. An die Stelle dieses Parallelismus tritt die These, dass Natur- und Geistesphilosophie die zwei Erscheinungsweisen des Absoluten seien. Insbesondere in den Briefwechseln mit Fichte, Goethe, August Wilhelm Schlegel und Eschenmayer steht diese gegenüber dem Transzendentalsystem veränderte Systemkonzeption im Zentrum der Debatten. Das Ab­solute als absolute Identität des Idealen und Realen, wie es in dem ersten Paragraphen der Darstellung von 1801 gefasst wurde, wird von den Briefpartnern Schellings kritisch diskutiert. Carl August Eschenmayer legt in seinem Brief an Schelling vom 21. August 1801, in dem er eine tiefschürfende Analyse des Identitätssystems vorlegte, den Finger auf die Frage, woher die Differenz in Schellings System komme. »Um Identitäten zu scheiden, erfordert es nothwendig eine Differenz und ein Übergewicht in der Identität ist ohne Differenz gar nicht denkbar; diese Differenz ist aber keine quantitative.« (360) Auch Friedrich von Schiller monierte in seinem Schreiben an Schelling vom 12. Mai 1801 dieses Problem. »Ich sehe z. B. recht gut, wie viel Sie, negativ, auf diesem Wege gewinnen, um nehmlich mit Einem Mal alle die alten hartnäckigen Irrthümer aus dem Weg zu schaffen, die Ihrer Philosophie ewig widerstrebten, aber ich kann noch nicht ahnden, wie Sie Ihr System positiv aus dem Satz der Indifferenz herausziehen werden. Daß Sie es gethan haben, zweifle ich nicht und bin desto begieriger auf die Lösung des Knotens.« (346)
Die identitätsphilosophische Grundlegung des Systems der Philosophie, wie sie von Schelling seit 1801 vorgelegt wurde, führte in den Jahren zwischen 1800 und 1802 zu einem nicht mehr zu behebenden Bruch zwischen ihm und Fichte, der um 1806 dann in öffentlichen und äußerst polemischen Schriften literarisch ausgetragen wurde. In den vorliegenden Band sind alle noch erhaltenen Briefe Schellings und Fichtes aufgenommen. Sie entstammen wei­-testgehend der von Immanuel Hermann Fichte und Karl Friedrich August Schelling veranstalteten Ausgabe Fichtes und Schellings philosophischer Briefwechsel, der postum 1856 publiziert wurde. Die Briefe Schellings an Fichte sind nicht mehr erhalten. Dieser Briefwechsel ist in der Forschung oft untersucht und kommentiert worden. Für ein angemessenes Verständnis dieser von Missverständnissen und Indiskretionen begleiteten Kontroverse dürfte es unentbehrlich sein zu beachten, dass in der Zeit dieses Briefwechsels sowohl Schelling als auch Fichte an einer veränderten systematischen Grundlegung ihrer Philosophien arbeiten. Bei Schelling ist es der Übergang zur Identitätsphilosophie und bei Fichte der Übergang zur späten Wissenschaftslehre, die von Fichte selbst nie publiziert wurde.
Neben den philosophischen Kontroversen über eine angemessene Grundlegung eines philosophischen Systems nimmt ein von Fichte und Schelling anvisiertes großes Zeitschriftenprojekt einen breiten Raum in den Briefen des vorliegenden Bandes ein. Schelling hat in diesen Jahren eine Vielzahl von Zeitschriftenprojekten angestoßen, die für die Verbreitung und Diskussion vor allem seiner Naturphilosophie ein Forum schaffen sollten. Um 1800 entsteht eine förmliche Zeitschriftenkultur, welche die seit 1770 einsetzende Professionalisierung und Ausdifferenzierung von Wissenschaft kritisch begleitet und reflexiv zu steuern sucht. »Wissenschaftssoziologisch wird man den Zeitschriftenplan Schellings und seiner Mitstreiter als Versuch einer Reflexion und Lenkung dieses Prozesses der Ausdifferenzierung von Wissenschaftsbereichen charakterisieren.« (34) Das von Fichte und Schelling zusammen mit den Brüdern Schlegel geplante Zeitschriftenprojekt ist seit 1799 ein Thema in den Briefwechseln und verläuft in vier Phasen (vgl. 29–66). Anvisiert wurde ein Organ, in dem Rezensionsorgane besprochen werden, eine »Zeitschrift in der zweiten Potenz« (35), wie es Fichte nannte. Dieses große Zeitschriftenprojekt, dessen Plan eine wechselvolle und verwickelte Geschichte durchlief, ließ sich in der geplanten Form nicht realisieren. Schelling selbst gab seit 1802 zusammen mit Hegel, der seit dem Januar 1801 in Jena war und mit dem sich eine enge Zusammenarbeit entwickelte, das Kritische Journal der Philosophie heraus.
In dem begrenzten Rahmen einer Rezension ist es selbstverständlich nicht möglich, diesen höchst interessanten Briefband in seiner ganzen Breite und Vielfalt auch nur andeutungsweise zu thematisieren. Vieles, wie etwa die Briefwechsel Schellings mit Ca­roline Schlegel, der Tod Auguste Böhmers, die Auseinandersetzungen mit der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung u. a., muss notgedrungen unerwähnt bleiben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass der vorliegende, mustergültig edierte Briefband der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings eine unentbehrliche Quelle und ein wichtiges Hilfsmittel für jeden darstellen wird, der sich mit der Philosophie Schellings beschäftigt. Man darf auf die weiteren Bände dieser hoch ambitionierten Werkausgabe gespannt sein.