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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1250-1252

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dieckow, Katrin

Titel/Untertitel:

Gespräche zwischen Gott und Mensch. Studien zur Sprache bei Kierkegaard.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 238 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 122. Geb. EUR 54,90. ISBN 978-3-525-56356-4.

Rezensent:

Claudia Welz

In ihrer Göttinger, von J. Ringleben betreuten Dissertation untersucht Katrin Dieckow den Zusammenhang von Sprach- und Subjektivitätstheorie in den pseudonymen und erbaulichen Schriften Kierkegaards. Da die Sprache »in ihrer Doppeltheit von hörbarem Laut und innerer Bedeutung ebenfalls eine Instanz zwischen Leib und Seele« ist, liegt es nahe, sie in ein Verständnis des Selbst einzubeziehen (11). Dennoch liegt meines Wissens bislang noch keine vergleichbare, beide Themenfelder vereinigende Untersuchung vor.
Das Buch ist in vier Hauptkapitel unterteilt, gefolgt von einem kurzen Schlussteil, Literaturverzeichnis und Sachregister. In »1.Ein­stimmungen« wird Kierkegaard als Sprachbeobachter und -liebhaber vorgestellt, der die menschliche Existenz mithilfe grammatischer Phänomene beschreibt. Kapitel »2. Selbstgespräche« be­handelt im Anschluss an Begriff Angst Gespräche des Selbsts in Unschuld, Sünde und Freiheit. Für Kierkegaard ist der Sündenfall ein Geschehen im Menschen: Adam hört nicht Stimmen von außen, sondern redet mit sich selbst. Freiheit gründet in der Selbstunterscheidung des Geistes, die sich in der Sprache, der Bedingung des Denkens, reflektiert. Die Sprache ist zwischen Innen und Außen. Auch das im Innern entstehende Wort kann einem als etwas Fremdes gegenübertreten. Dadurch kann sich das als Geist bestimmte Selbst zu sich verhalten. Freiheit als Möglichkeit löst Angst aus. Verschlossenheit ist die nicht kommunizieren wollende, sich unfreiwillig äußernde ›Sprache‹ der Angst. Das freie Selbstgespräch wird durch die Anrede durch Gott, sein Vergebungswort, ermöglicht. Die Er­zählung »Schuldig? – Nicht Schuldig?« aus Stadien veranschaulicht, dass sich Verschlossenheit auch in Beredsamkeit verbergen und nur religiös von innen heraus aufgeschlossen werden kann. Sofern Gott nicht ein für allemal gesprochen hat, sondern durch den Menschen selbst zu ihm spricht, muss das Wort der Befreiung vom Verschlossenen selbst kommen. Würde Freiheit von außen eingesetzt, wäre sie keine Freiheit mehr.
Das längste Kapitel »3. Reden und Schweigen« stellt zunächst anhand von Furcht und Zittern heraus, warum Abraham als der Schweigende in den Blick kommt: Seine Glaubensbewegung führt die Suspension des Ethischen, Allgemeinverständlichen und damit einen Sprachverlust mit sich. Mit Verweis auf Krankheit zum Tode macht D. auf weitere Parallelen zwischen Sprache und Menschsein aufmerksam: Wie das Selbst sich bewusst zu sich selbst verhalten muss, so ist auch die Sprache nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe. Wie das Selbstverhältnis verfehlt werden kann, dient die Sprache nicht per se der Kommunikation, sondern kann sich in Missverständnis und Geschwätz verfehlen. Dem verzweifelt-trotzigen Festhalten am Selbstseinwollen entspricht das dämonisch in sich selbst verbissene Schweigen. Ohne Schweigen jedoch wird die Sprache belanglos. In der Sünde stehen Reden und Schweigen nicht im rechten Verhältnis zueinander. In Glaube und Gebet dagegen, dem durchsichtigen Sich-Gründen in Gott, werden göttliche und menschliche Rede füreinander durchsichtig. Der Weg geht vom Reden über das Schweigen zum Hören wie der Weg vom vorfindlichen Selbstverhältnis über dessen Negation zum in Gott gegründeten Selbstverhältnis geht. In der Rede über Lilie und Vogel münden Bitte und Dank in die Schlussworte des Vaterunsers, die nicht die eigenen sind, aber mit der eigenen Stimme gesprochen werden und damit den Sprachunterschied zwischen Gott und Mensch aufheben. Die Rede über den rechten Beter zeigt, dass im Gebet um ein neues Selbst- und Gottesverständnis gerungen wird. Den Philosophischen Brocken gemäß erniedrigt und offenbart sich Gott, indem er sich der menschlichen Sprache bedient. Die Bibel dolmetscht durch metaphorische Sprache. Glauben- und Liebenlernen ist das Lernen einer neuen Sprache und Weltsicht.
Kapitel »4. Wort und Tat im Gespräch« analysiert den im Be­wusstsein auftretenden Widerspruch zwischen unmittelbarer Realität und Idealität der Sprache. Es bedarf der »Wiederholung«, der Erinnerung nach vorn, damit das Vergangene gegenwärtig und wieder wirklich werden kann. Die Sprache des Glaubens und der Liebe ist ein Dialog im Indikativ ohne ironische Flucht ins Irreale, ein leidenschaftliches Einstehen für die eigenen Worte. Auch indirekte Mitteilung zielt letztlich auf die direkte Rede, das Zwiegespräch zwischen Gott und Mensch. Doch dieses Gespräch ist ein offenes Geschehen und die Freiheit krisenhafte Kommunikation, was die Ambivalenzen der Sprache und die Widersprüche des Menschen erklärt.
Soweit das Resümee des Haupttextes. In den Fußnoten diskutiert D. gründlich und scharfsinnig die Sekundärliteratur zu Kierkegaards Sprache. Die Literatur zum Selbstsein ist dagegen unterbelichtet. D.s subjektivitätstheoretische Ausführungen hätten viel von einer Auseinandersetzung mit den Arbeiten M. Theunissens und A. Grøns profitieren können. Problematisch ist z. B., dass das »Nichtsein« des Selbst mit seinem Gesetztsein und dem Schweigen als »Nichtsein« der Sprache parallelisiert wird (94 f.106 f.). Ist Reden wirklich »Sich-selbst-setzen-wollen« im Gegensatz zum »hörenden Sich-selbst-setzen-lassen« (113)? Setzen Reden und Schweigen nicht voraus, dass das Selbst bereits da ist und sich redend oder schweigend entfalten muss? Zudem stellt D. Erlösung als »Handlung« der Selbstsetzung dar (55) und sieht das Aufgeben des eigenen Selbstbildes als Bedingung dafür, dass der Mensch ein von Gott gesetztes Verhältnis »werden« kann (217). Dies widerspricht Kierkegaards lutherischem Erbe ( sola gratia, verbum externum etc.), das leider kaum thematisiert wird. Offen bleibt auch, wie es zum »Gespräch mit Gott« (231) kommen kann, wenn das göttliche Wort jeweils zu menschlicher Rede wird (95). Nichtsdestotrotz ist D.s Studie inspirierend. Die Fragen zeigen, dass es D. gelingt, zum Nachdenken anzuregen, und dass sie sich pionierhaft in Gebiete vorwagt, die weitere Erkundungen verdienen.