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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1248-1250

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rotter, Angelika

Titel/Untertitel:

Christian Gottlob Leberecht Großmann (1783–1857). Vereinsgründung und kirchliche Verantwortung zwischen Rationalismus und Neuluthertum.

Verlag:

Leipzig: Evanglische Verlagsanstalt 2009. 499 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 27. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02727-9.

Rezensent:

Wilhelm Hüffmeier

Christian Gottlob Leberecht Großmann war in der 2. Hälfte des 19. Jh.s als »Gründervater« der Gustav-Adolf-Stiftung (1832) und Mitbegründer des Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung (1842) eine im gesamten deutschen Protestantismus bekannte und verehrte Persönlichkeit. Das ist heute nicht einmal überall im Gustav-Adolf-Werk (GAW) noch so. Deshalb war es ein Glücksfall, dass Angelika Rotter zum 175. Geburtstag des GAW eine vorzügliche Kurzbiographie über Großmann präsentieren konnte: »Chr. G. L. Großmann. Leipziger Superintendent und Wegbereiter evangelischer Diasporaarbeit« (2007). Sie basiert auf den Studien des schier unerschöpflichen Quellenmaterials für R.s Dissertation zu »Leben und Wirken des Gründervaters der Gustav-Adolf-Stiftung« (2006), die nun in überarbeiteter Form als Buch vorliegt.
R.s Buch reiht sich ein in die seit geraumer Zeit sich vollziehende »Renaissance der Biographie« mit dem Ziel der Darstellung »ge­lebte[r] Religiosität« gegenüber der »Reduktion der Christentumsgeschichte auf die Geschichte der kirchlich organisierten Institution und theologisch ausformulierten Ideensysteme« (V. Drehsen; 20). Dabei widmet sich R. – erstmalig in der Forschung – dem Leben und vielseitigen Wirken nicht nur des GAW-Gründervaters, sondern des ganzen Großmann, dessen »Rufname« leider unsicher bleibt. Großmann bediente sich abwechselnd sowohl der Namen Christian wie Gottlob. Die Grundzüge seiner Persönlichkeit und die Vielseitigkeit seines Wirkens werden von R. mit bewundernswürdiger Sorgfalt und einer stupenden Detailkenntnis dargestellt.
In Kapitel I (25–114) wird gezeigt, wie die außerordentliche sprachliche und intellektuelle Begabung des 1783 geborenen Pfarrerssohns ihm nach der Schulzeit in Schulpforte und dem Studium in Jena die seltene Examensnote »perquam bene« (sehr gut) für den Eintritt ins Predigtamt im Jahr 1805 einbrachte, so dass Großmann sich für »eine akademische Laufbahn« entschied (43). Durch die folgenden Kriegsereignisse kam es zunächst anders. Als Hilfspfarrer in der Gemeinde seines Geburtsortes Prießnitz unweit von Naumburg, wo sein Vater noch als Pfarrer amtierte, hat er im Oktober 1806 dank seiner Französischkenntnisse und seines Vermittlungsgeschicks verhindert, dass die Dorfbewohner Opfer einer mörderischen Strafmaßnahme der Franzosen wurden. Durch dieses kollektive Rettungserlebnis, dessen noch heute alljährlich am 16. Oktober in Prießnitz gedacht wird, wurde nicht nur Großmanns »äußerer Lebensweg beeinflusst«, »das Erlebte« hat »auch auf sein Inneres verändernd eingewirkt« (49).
R.s Buch zeigt weiter, wie Großmann nach einer Pfarrstelle in Gröbitz und einem Zwischenspiel als Diakon und Professor in Schulpforte ab 1823 im Amt des Generalsuperintendenten im nunmehr preußischen Altenburg seine verwaltungstechnischen Gaben sowie seine kritisch-vermittelnde Haltung gegenüber der preußischen Unions-Agende und in der Auseinandersetzung mit pietistischen Kreisen unter Beweis stellen konnte. Vor allem aber richtete sich dort im Zusammenhang mit dem Übertritt des ka­-tholischen Priesters Aloys Henhöfer und eines Großteils von dessen Ge­meinde im badischen Mühlhausen sein Augenmerk erstmalig auf »die Problematik evangelischer Minderheiten« (95).
In Kapitel II (115–420) wird dargestellt, wie Großmanns Karriere 1829 ff. mit der Übernahme des Superintendentenamtes von Leip­zig, einschließlich theologischer Professur und politischer Tätigkeit, ihren Höhepunkt erreichte. R. führt aus, dass und wie Großmann, obwohl zunächst vom Rationalismus geprägt, theologisch und politisch (Revolution 1848!) weder der liberalen noch der aufklärungskritischen konservativen Formation des gespaltenen deutschen Protestantismus im 19. Jh. zuzuordnen ist. Großmann habe »am Anfang der dreißiger Jahre durchaus, wenn auch oft gemäßigt, zahlreiche Positionen des liberalen Protestantismus« vertreten, »während er später mehr und mehr Elemente der konfessionell-konservativen Theologen übernahm, ohne sich dieser Richtung konsequent anzuschließen« (226). Ein nicht unüblicher biographischer Vorgang für kirchenleitende Persönlichkeiten. Als Leipziger Superintendent war Großmann zugleich nach dem Dresdner Oberhofprediger der 2. Leitende Geistliche im Königreich Sachsen.
Dem liberalen Zug sei Großmann darin treu geblieben, dass er sich lebenslang, wenn auch erfolglos, für die Einführung einer presbyterial-synodalen Kirchenordnung im Königreich Sachsen eingesetzt hat. Andererseits habe er sich infolge des Leipziger Apos­­tolikumsstreits im Jahr 1844 dafür eingesetzt, »das Ansehen der Bekenntnisschriften, den positiven Glauben sowie orthodoxe Lehrgrundlagen zu erneuern« (161). Der erfolgreiche Prediger war be­müht, in der Liturgie neben der Predigt der Anbetung und dem feierlichen Kirchengebet (vgl. 192) einen angemessenen Platz zu schaffen, um so der nachlassenden Teilnahme am Gottesdienst entgegenzuwirken. Andererseits ergeben Großmanns Haltungen in Fragen der Schulreform, der Juden-Emanzipation und der Stellung zum Katholizismus ein ambivalentes Bild, in dem vorwärtsweisende und retardierende Momente sich reiben.
In der Lehrtätigkeit bildeten die neutestamentliche Zeitgeschichte (Großmann hatte sich mit einer Arbeit über den jüdischen Schriftsteller Philo von Alexandria habilitiert) und Exegese zusammen mit der »Praktischen Theologie, vor allem der Pastoraltheologie, und in deren Rahmen auch der Liturgik, der Homiletik und Katechetik« die Schwerpunkte. Hinzu kamen »vereinzelte Kollegs über christliche Ethik und Dogmatik« (258). Zugleich fungierte Großmann von 1833 bis 1855 als Landtagsabgeordneter, für ihn offenbar ein »Ersatz für die synodale Arbeit, die er in seiner Kirche vermisste« (263). In dieser Funktion hat er, ein Vertreter der konstitutionellen Monarchie, zu »fast allen Problemen … Stellung« (ebd.) bezogen, vor allem aber sich mit Nachdruck für die »Beteiligung des Volkes an der Regierung« (431) eingesetzt.
Was schließlich Großmanns Rolle als einer der Gründungsväter des GAW betrifft, so stellt R. treffend dar, wie der Übergang von der Stiftung (1832) zum Verein (1842) Großmanns Auffassung von der Mobilisierung und dem Zusammenwirken des ganzen Volkes Gottes in der Kirche ebenso entgegenkam, wie er es durch seine verbindliche persönliche Art schaffte, bei jenem Übergang Spannungen sowohl mit Dresden (wegen der Situierung der Zentrale in Leipzig) als auch mit Darmstadt (weil man dort die Idee eines deutschlandweiten Diasporahilfsvereins für sich reklamierte) im­mer wieder zu überwinden. Das gelang nicht zuletzt dadurch, dass er zu einem väterlichen Freund des jüngeren Karl Zimmermann wurde.
In Kapitel III (421–428) wird auf den »Tod und (die) erste Würdigung in Nekrologen« eingegangen, während Kapitel IV (429–433) eine kurze »Zusammenfassung« der Ergebnisse gibt.
Die überfällige umfassende Biographie von Großmann, zu­gleich ein wichtiger Beitrag zum Bild des Protestantismus im 19.Jh., ist das Ergebnis enormer Quellenkenntnis und lässt be­scheiden zugleich immer wieder die Notwendigkeit weiterer Forschung durchblicken, so z. B. durch Verweis auf die nötige Bearbeitung der Nachschrift einer Dogmatikvorlesung von Großmann (19, Anm. 32) und den Hinweis auf den reichen Schatz von ungefähr 220 Predigtnachschriften (189). Durch die Auswertung solcher Skripte könnte das Profil des Theologen »zwischen Rationalismus und Neuluthertum« sicher bestätigt und zugleich theologisch angereichert werden.