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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1246-1248

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer als liberaler Theologe. Studien zu einem theologischen und philosophischen Denker.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2009. 417 S. gr.8° = Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung, 11. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-10284-3.

Rezensent:

Matthias Heesch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Oermann, Nils Ole: Albert Schweitzer. 1875–1965. Eine Biographie. München: Beck 2009. 367 S. m. 49 Abb. 8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-406-59127-3.


Die Geschichte des modernen Protestantismus ist die Geschichte einer Transformationskrise. Diese Krise hat ihren Grund darin, dass das Prinzip subjektiver und gesellschaftlicher Autonomie sich als individuelle Freiheit und Säkularität der Gesellschaft neuzeitlich Bahn gebrochen hat. Die Reformation hat zwar sowohl den Gedanken subjektiver Freiheit, gedeutet als religiöse Freiheit, wie auch – in gewissen Grenzen im Rahmen der Zwei-Reiche-Lehre – den Gedanken der Säkularität des Innerweltlichen grundgelegt. Die Situation der Spätmoderne jedoch ist demgegenüber, dass sich individuelle Freiheit von ihrer religiösen Begründung ebenso emanzipiert, wie die säkulare Gesellschaft nun Bindekräfte entwickelt, die nach Art und Intensität religiösen Bindungen gleichkommen. Das ist auch die Situation, in der sich der Protestantismus im 20. Jh., dem Jahrhundert der Ideologien und des Wohlstandssäkularis­mus, zu bewähren hatte und weiterhin zu be­währen hat.
Albert Schweitzer, dem die beiden nachfolgend zu besprechenden Bände gewidmet sind, hat diese Herausforderung angenommen. Er hat die These vertreten, dass das modern-protestantisch gedeutete Christentum zugleich die Lebensgestalt darstellt, die dem Menschen aufgrund seiner Theonomie und seiner Humanität (Autonomie) vorgezeichnet ist. Träger dieser Haltung ist das Einzelsubjekt, das Schweitzer als seiner Gesinnung verpflichtetes Individuum versteht.
Die Biographie von Nils Ole Oermann zeichnet Schweitzers Le­benslauf nach und kann sich dabei u. a. auf dessen autobiographisches Schrifttum stützen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung als zuverlässig, angemessen ausführlich und von einer Zurückhaltung geprägt, die Schweitzer als Mann seiner Zeit deutlich heraustreten lässt, was auch eine plausible Gewichtung seiner Selbstdarstellung und einer – grundsätzlich nur ansatzweise er­reichbaren – geschichtlichen »Objektivität« einschließt (vgl. die pro­grammatischen Überlegungen 10 f., die auch um­gesetzt werden).
Einige Aspekte seien in diesem Rahmen hervorgehoben: Richtigerweise betont die Monographie die Bedeutung Kants und des südwestdeutschen Neukantianismus für Schweitzer (35–44). Sein Denken setzt Kants Betonung der identischen Vernunftnatur aller Menschen voraus, nur dass bei Schweitzer der Referenzrahmen nicht mehr Vernunft, sondern Leben ist, wobei aber Leben die Eigenschaft der quasi apriorischen Zusammenstimmung ebenso hat wie, in Kants Deutung, die Vernunft. Mit Kants Vernunftkonzept teilt Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben auch die Ungeschichtlichkeit. Das wirkt sich aus in der Annahme, der Epigonenstatus der kulturell Spätgekommenen ließe sich in einer Lebensführung von Einzelnen (157) nach der Maxime der Ehrfurcht vor dem Leben überwinden (43 f.148–165 u. ö.). Ebenso folgt Schweitzer Kant, wo er betont, dass die Ehrfurcht vor dem Leben nur theonom denkbar ist, so wie nach Kant die praktische Vernunft nur unter der Voraussetzung eines protestantisch gedeuteten Christentums lebenswirksam sein kann, was die von Schweitzer intensiv zur Kenntnis ge­nom­mene Religionsschrift (36) zeigt. Die Ungeschichtlichkeit von Schweitzers Denken, die ihn mit Kant und Nietzsche (über diesen und Schweitzer 162–168 u. ö.) verbindet, hat die entscheidende Weichenstellung seiner Ethik zur Folge: Er denkt konsequent individualistisch. Kategorien wie Gesellschaft, Institution oder Recht markieren geradezu das Gegenteil seiner ethischen In­tentionen.
Die Erfahrungen des 1. Weltkrieges, die der gleichermaßen deutsch- wie französischsprachige Elsässer Schweitzer besonders intensiv durchlebte und durchlitt – nicht zuletzt während seiner Ausweisung aus Lambarene und der nachfolgenden französischen Internierung (143–147) –, haben dieses grundlegende Misstrauen gegen Institutionen wohl wesentlich bestärkt. Manche politischen Naivitäten vor allem seiner Spätzeit (über Schweitzers Briefwechsel mit W. Ulbricht und dessen propagandistische Verwertung: 279–282) dürften hier ihre Wurzel haben. Mit seinem starken Abheben auf Personen war Schweitzer aber andererseits durchaus öffentlich wirksam (287–294, insbesondere 287 f.). Die Tatsache, dass für ihn Gesinnung primär war und der institutionell-geschichtliche Rahmen ausgeblendet wurde, hatte auch sein geringes Interesse an Kultur und Sprache der Einwohner der französischen Kongo-Kolonie bzw. später der Republik Gabun zur Folge. Angesprochen war stets der einzelne Mensch. Aus kulturellen Differenzen sich ergebende Kommunikationshemmnisse veranlassten Schweitzer gelegentlich zu problematischen Urteilen (201–212). Schweitzer sprach in Afrika stets französisch und verständigte sich gegebenenfalls mittels Dolmetscher (sowohl bei Predigten wie auch bei Patientengesprächen: 136 u. ö.). So ist auch verständlich, dass Schweitzer an der Unabhängigkeit der neuen Republik Gabun (1961) geringen Anteil nahm – handelte es sich hierbei doch um einen institutionellen Wandel. Ihm vom ersten Präsidenten Ga­buns, Léon M’Ba, angetragene Funktionen lehnte Schweitzer, allerdings auch aus Altersgründen, ab (296).
Oermanns Biographie zeichnet den eindrucksvollen Lebenslauf einer protestantischen Persönlichkeit im 20. Jh. Allerdings ist Schweitzers Versuch einer rein gesinnungshaft-individuellen Realisierung protestantischer Existenz partiell gescheitert. Dies gilt sowohl für seinen Umgang mit kulturellen Differenzen wie auch mit totalitären Herrschaftssystemen, die er allzu leicht über die deklarierte Friedensgesinnung ihrer Protagonisten (z. B. Ulbricht) fehldeutete. Dass die theonom begründete Autonomie des Individuums nicht von der Agenda genommen werden darf – eine in der Gefahr der Klerikalisierung stehende evangelische Kirche hätte hier manches zu lernen –, ist eine Lehre, die sich aus Schweitzers Schriften ebenso wie aus seiner von Oermann sehr gut wiedergegebenen Biographie gewinnen lässt.
Wichtige Aspekte der Theologie und Philosophie Schweitzers behandelt der Band von Werner Zager. Einblick in die neutestamentliche Grundlegung von Schweitzers Denken vermittelt der Aufsatz Albert Schweitzer als liberaler Bibelausleger (57–74): Die Entwicklung der neutestamentlichen Theologie ist wesentlich eine Folge der gescheiterten Naherwartung Jesu und der ersten Generation seiner Anhänger. Es kommt nun nach Schweitzer darauf an, die gesinnungshafte Verinnerlichung des Glaubens (deren Vollendung die Ehrfurcht vor dem Leben ist) als schon bei Paulus einsetzende authentische Transformation des ursprünglich rein eschatologischen Christentums zu begreifen (72 f. u. ö.). Dies bedeutet auch, dass der für Schweitzer so wichtige Individualitäts- bzw. Ge­sinnungsaspekt nicht geschichtsphilosophisch aufgelöst werden darf. Schweitzer veranschaulicht das in einer kritischen Würdigung des Exegeten und Kulturtheoretikers D. F. Strauß (David Friedrich Strauß im Urteil Albert Schweitzers: 75–97, insbesondere 96). Ein weiteres Anliegen Schweitzers ist eine, im Kontext der Ehrfurcht vor dem Leben geschehende, Aneignung der Kategorie der Natur: Hier verweist Schweitzer u. a. auf Goethes Naturphilosophie (126–132, Schweitzers Ansprache zur Goethepreisver­leihung). Als Arzt, Theologe und Philosoph kann er die neukantianische Reduzierung der Philosophie auf Ethik und Er­kenntnistheorie ebenso wenig akzeptieren wie den Ethizismus der Ritschl-Schule.
Auf diesem Wege gelingt die Herausarbeitung von Schweitzers theologischem Eigenprofil. Das Buch ist also durchaus ein respektabler Beitrag zur Theologiegeschichte des 20. Jh.s, vor allem, was die Erschließung von Quellen angeht. Letzteres führt allerdings zu einer gewissen Ratlosigkeit: Man lernt anhand der Quellen viel über Albert Schweitzer, vermisst jedoch oft Interpretationsarbeit. Ab S. 99 besteht das Buch weitgehend aus kommentierten Texten Schweitzers. Deren Anordnung hat zwar Sinn, ist jedoch keine wirkliche Herausarbeitung des liberal-theologi­schen Profils von Schweitzer. Dasselbe gilt für die eingeschalteten Briefe an Schweitzer (193–296), denen dann noch weitere kurze Texte Schweitzers zu verschiedenen Themen (297–351) sowie ein Verzeichnis seiner Schriften (353–396) folgen. So enthält der Band an Studien außer den erwähnten Aufsätzen eigentlich nur noch einen biographischen Essay (13–55), der, wenn auch auf nützliche Weise, zusam­menfasst, was andernorts auch zu lesen ist. Besser wäre gewesen, wenn Zager die Ansätze für eine Gesamtinterpretation zu einer Monographie oder echten Aufsatzsammlung ausgebaut hätte. So aber hinterlässt das im Einzelnen durchaus nützliche und interessante Werk den Eindruck des Unfertigen.