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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1244-1246

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Müller, Andreas Uwe

Titel/Untertitel:

Christlicher Glaube und historische Kritik. Maurice Blondel und Alfred Loisy im Ringen um das Verhältnis von Schrift und Tradition.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 357 S. gr.8° = Freiburger theologische Studien, 172. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-451-29656-7.

Rezensent:

Claus-Dieter Osthövener

Die Monographie des katholischen Fundamentaltheologen Andreas Uwe Müller (Fribourg) führt mitten hinein in die Diskussionen um den sog. Modernismus. Das Kernstück des Buches bildet die Übersetzung des Briefwechsels von Alfred Loisy und Maurice Blondel. Dieser wird eingerahmt durch eine Hinführung zum Kontext der Auseinandersetzung um den Modernismus sowie eine ausführliche Darstellung des Ansatzes von Alfred Loisy und eine knappe Skizze des bis zum fraglichen Zeitpunkt vorliegenden Werks von Maurice Blondel. Ein abschließender Teil zieht dann eine interpretatorische und fundamentaltheologische Bilanz. Der Briefwechsel selbst ist nicht umfangreich: Drei Briefe von Loisy und fünf Briefe von Blondel liegen vor, dazu ein Brief Blondels an Wehrlé, den dieser an Loisy weiterleitet. Der Zeitraum der Korrespondenz ist ebenfalls kurz: Er erstreckt sich vom November 1902 bis zum März 1903. M. greift für seine Übersetzung zurück auf eine französischsprachige Edition aus dem Jahr 1960, die er anhand der Originaldokumente vervollständigt. Allerdings werden die Briefe nicht integral abgedruckt und auch als Dokumente nicht weiter charakterisiert, so dass man nicht im engeren Sinn von einer Edition sprechen kann. Vielmehr wird die Übersetzung der einzelnen Briefe in einen interpretierenden Rahmen aus einleitenden Bemerkungen und ausführlichen Fußnoten gestellt. Ausgangspunkt der Korrespondenz ist Alfred Loisys viel­-diskutierte Schrift »L’évangile et l’église« aus dem Jahr 1902, die ihm schließlich die Exkommunikation eintrug.
Die dem gesamten Buch zugrunde liegende These lautet: »In der Modernismuskrise bündeln sich wie in einem Brennglas die krisenträchtigen Probleme, die die Neuzeit mit sich heraufgeführt hatte«; zugleich begann mit ihr ein langer, »bis heute nicht abgeschlossener Weg der Suche und Neuorientierung« (13). In diese krisenhafte Konstellation wird nun die im Briefwechsel dokumentierte Diskussion hineingestellt: »Wir werden Zeugen, wie eine basale Theorie der Glaubensüberlieferung auf den Weg gebracht wird, die nicht nur die disparaten Lehrstücke und Disziplinen der Theologie zu integrieren versucht und so auf die Einheit der Theologie verweist, sondern auch eine künftige Gestalt der Glaubensüberlieferung anzeigt, die, dialog- und belastungsfähig zugleich, die lebendigen Kontexte und sich gegenwärtig ausbildenden Strömungen zu integrieren vermag« (16). Ein weitgestecktes Programm, in der Tat, das auch für die gegenwärtigen Diskussionen innerhalb der römisch-katholischen Kirche Anregungen geben möchte.
Loisy selbst hat seine historisch-systematischen Versuche ausdrücklich als eine Auseinandersetzung mit Harnack verstanden, der demzufolge in dieser Monographie ebenfalls häufiger eine Rolle spielt (und eigenartigerweise stets »Adolph« heißen muss). Allerdings wird man kaum sagen können, dass Loisy oder gar Blondel der Höhenlage von Harnacks historischer Hermeneutik gerecht geworden sind. Da auch M. in diesem Punkt nicht klüger sein wollte als seine Helden und daher die neuere Forschung sowohl zu Harnack wie auch zu dem hin und wieder genannten Schleiermacher konsequent ignoriert, wird man die (meist kritischen) Bezugnahmen auf die protestantische Theologie mit Stillschweigen übergehen können und das Buch stattdessen als den Versuch einer Klärung spezifisch katholischer Sachprobleme lesen.
Als solches ist es nun durchaus mit Liebe zum Detail gearbeitet und durchweg belehrend und aufschlussreich. Insbesondere die immer wieder neu ansetzenden Versuche Loisys, der historischen Forschung einen eigenen Ort innerhalb der Kirche und der Theologie zu sichern, sind sehr interessant. Bemerkenswert ist vor allem das Bemühen, einerseits die Voraussetzungslosigkeit der Ge­schichtsforschung zu wahren, sie andererseits aber gerade darin zur Kronzeugin der seit den Anfängen der Religion kontinuierlich waltenden Offenbarung zu machen und im Blick auf die frühe Christenheit die Identität von Evangelium und Kirche nachzuweisen. In diesem Sinne handelt es sich um eine katholische Apologetik mit historischen Mitteln (vgl. etwa 69 f.).
Angesichts des gerade machtvoll sich neu formierenden Rückgriffs auf die mittelalterliche Scholastik (Aeterni Patris, 1879) wundert es nicht, dass diesem Versuch kein kirchenamtlicher Beifall gezollt wurde. Geschichtsmethodologisch steht ein sehr starkes Kontinuitätsinteresse im Vordergrund, das sich von vornherein (auch das wenig verwunderlich) ein starkes institutionelles Rückgrat zu verschaffen sucht und auf diese Weise die sich ausbildende Reichskirche als bereits in den Anfängen des Christentums »impliziert« zu begreifen vermag (vgl. besonders 82 f. und 118–121). Die hier leitende Bezug­nahme auf Kardinal Newmans Entwicklungsbegriff wird von M. detailliert und einleuchtend aufgezeigt. Insgesamt plädiert Loisy recht umstandslos für »eine unfehlbare Kirche, d. h. eine solche, die volle Autorität hat, die Symbole zu regeln, zu erklären, sie den variablen Bedingungen von Umwelt und Zeit anzupassen« (93). Mit einer so ausgestatteten Institution ist freilich die Frage nach einem »Wesen des Christentums« überflüssig geworden.
Die Korrespondenz mit Blondel bezieht ihren Reiz nicht zuletzt daraus, dass mit dem philosophisch gebildeten Blondel ein Vertreter des modernen Katholizismus auftritt, der seinerseits die Engführungen der Neuscholastik vermeiden wollte. Seine Bedenken lassen alle historisch-methodologischen Detailfragen beiseite und gehen direkt auf die fundamentaltheologische Bedeutung von Loisys Entwurf los, indem nach den Konstitutionszusammenhängen gefragt wird. Zwar hat sich ein fruchtbarer Dialog daraus nur in Ansätzen entwickelt, dennoch sei dem interessierten Leser empfohlen, diesen Mittelteil im Zusammenhang zu studieren. Hier liegt viel Material zu einer im Einzelnen durchgeführten Bezug­nahme auf eine dann ebenfalls im Einzelnen verfahrende Rekonstruktion des historischen Diskurses der Jahrhundertwende bereit.
Die Schlussausführungen widmen sich in konzentrierter Weise dem Versuch, den Gedanken einer »lebendigen Tradition« allseitig deutlich zu machen. In der christologischen Zuspitzung auf Jesus als dem unableitbaren Ursprung der Offenbarung vollendet sich die Suche nach der »lebendigen Einheit eines Vollzugsganzen, das Sprecher und Hörer umgreift, aus der alles Sagen und Tun Jesu letztlich seine Einheit und seinen Sinn bekommt« (284). Bei der nun folgenden Rekonstruktion der frühchristlichen Geschichte ist diese lebendige Einheit immer schon institutionell präsent, als »Ur­kirche der Jünger Jesu« (288). Und auch alles Folgende, bis hin zu den christologischen Formeln von Chalcedon ist implizit immer schon vorhanden. Die angezielte »transzendentale Hermeneutik des Christentums« (333) ist demnach ein Unternehmen, das die aufgebrochenen historischen Fragen der Moderne vermitteln möchte mit dem langen Atem der katholischen Tradition. Der Briefwechsel von Loisy und Blondel dient dabei als exemplarische Darstellung der methodischen und systematischen Probleme, die sich dabei auftun und die durch das zweite vatikanische Konzil auch lehramtlich präsent gehalten wurden und werden, jedoch nach wie vor der Bearbeitung bedürfen.