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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1240-1242

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kastning, Wieland

Titel/Untertitel:

Morgenröte künftigen Lebens. Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 458 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 117. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-525-56345-8.

Rezensent:

Christopher Spehr

»›Wir‹, sprach D. Martinus, ›sind jetzt in der Morgenröthe des künftigen Lebens, denn wir fa[ng]en an wiederum zu erlangen d[ie] Erkenntniß der Creaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall.« (WAT 1; 574,8–10) Aus diesem die reformatorische Gegenwart im zarten Licht der beginnenden Heilszeit deutenden Zitat einer Tischrede Luthers stammt der metaphorisch gehaltvolle Titel einer nicht weniger gehaltvollen Studie. Diese befasst sich, wie die zwei Untertitel signalisieren, mit dem »reformatorische[n] Evangelium als Neubestimmung der Geschichte« und handelt über »Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis«. Weil Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis für die Ausformung seines Evangeliums- und Reformationsverständnisses grundlegend ist, trifft die aus der Feder des Bückeburger Pfarrers Wieland Kastning stammende und von Jörg Baur betreute Göttinger Dissertationsschrift ins Zentrum reformatorischer Theologie.
In vier umfänglichen Kapiteln sucht K. anhand von Luthers Ausführungen und deren neuzeitlichen Interpretationen die Thematik in systematisch-theologischer Weise zu erschließen und für den postmodernen Diskurs im Anschluss an seinen Doktorvater fruchtbar zu machen. So beginnt die im Aufbau nicht immer so­gleich nachvollziehbare Studie mit grundlegenden Ausführungen über »Geschichte als Ereignisgestalt der Wirkgegenwart Gottes« (I). In Umrissen wird hier Luthers Begrifflichkeit und theologischer Umgang mit Geschichte und geschichtlichen Fakten vorgestellt, welche zu Recht von dem sich seit dem 18. Jh. entwickelnden neuzeitlichen Geschichtsverständnis unterschieden werden. Dem folgen forschungsgeschichtliche Einordnungen von Luthers Ge­schichtsverständnis, die sich erheblich voneinander unterscheiden aufgrund der Tatsache, dass der Reformator selbst keine zusam­menhängenden Reflexionen über sein Geschichtsverständnis darlegt, sondern es lediglich im Zusammenhang anderer Themen verhandelt. Abschließend wird die hermeneutische Differenz zwischen frühneuzeitlichem und gegenwärtigem Geschichtsverständnis buchstabiert, die für K. nur vordergründig zwischen einem theologisch-gläubigen und einem säkularen Begreifen der Geschichte besteht. Vielmehr verortet K. die fundamentale Differenz bereits auf vortheologischer Ebene, indem er den Gegensatz in der vorneuzeitlichen Annahme von »potenziell wiederholbaren Ge­schichten und Ereignissen innerhalb eines sich prinzipiell gleich bleibenden Zeit-Raum-Kontinuums« auf der einen Seite und in der neuzeitlichen Voraussetzung eines sich stets wandelnden und nicht wiederholbaren Gesamtprozesses »der einen Ge­schichte« (81) auf der anderen Seite charakterisiert. Durch die vortheologische Verortung dieser Grundannahmen gelingt es K., auch den neuzeitlichen Geschichtszugang für theologische Interpretationen offen zu halten. Ob diese Gedankenspiele allerdings in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft dialog- und tragfähig sind, müsste eigens geprüft werden.
Ausgehend von Luthers Überlegungen zum Weltgeschehen wendet sich das zweite Kapitel der »Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes« (II.) zu. Indem Luthers Wirklichkeitsverständnis analysiert wird, hofft K., einen für vorneuzeitliche und neuzeitliche Geschichtserfahrungen gleichermaßen theologisch vermittlungsfähigen Begriff »von der Ereignungsstruktur des Weltgeschehens« zu finden (86). Dieses Vorhaben realisiert er durch die Skizzierung verschiedener »Modi der Wirkgegenwart Gottes« (87), welche er in der Grunddifferenz des Geschöpfes zum Schöpfer erkennt und sowohl in metaphysischer als auch in sündentheologischer Dimension perspektiviert. Für den Menschen stellt sich Gottes Wirksamkeit aufgrund der »Realdialektik von Zorn und Gnade« als widersprüchlich dar (108). Allein dem Glauben gelingt es, die erfahrbaren Differenzen als Gottes Wirklichkeit zu identifizieren. Hierbei bilden Gesetz und Evangelium den Horizont des die Spannungen umgreifenden Wirklichkeitsverständnisses. Die Ge­schichte, so K., ist folglich der »Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang von Luthers Wirklichkeitsverständnis« (163).
Das folgende Kapitel geht einen Schritt weiter und interpretiert die »Ereignung der Wirklichkeit als Geschichte zwischen Zorn und Gnade« innerhalb des »reformationsgeschichtlichen Kontext[es]« (III.). K. geht der theologiegeschichtlich brisanten Frage nach, wie Luther seine eigene Gegenwart deutet. In Fortschreibung der Dialektik von Zorn und Gnade entdeckt K. in Luthers Deutungen der geschichtlichen Gegenwart eine zweifache Signatur: Einerseits be­gegnet ihm die Gegenwart »als Zeit drohender endzeitlicher Durchsetzung der Herrschaft des Antichrists« (272) und des Teufels. Andererseits versteht er die Gegenwart aufgrund der Offenbarung des Evangeliums als eine »Zeit der Gnade«, die allerdings un­ter Vorbehalt steht. Die zwischen Gnade und Zorn oszillierenden Zeitansagen kulminieren in der trefflichen Grundeinsicht: »Luther selbst versteht die Zeit der von den Späteren so genannten Reformation als vorendzeitliches Interim, in welchem Gott vor der Wie­derkunft Christi das Evangelium noch einmal in bisher nie ge­kannter Klarheit als Ruf zur letzten Sammlung und Umkehr aufleuchten lässt.« (386)
In Hervorhebung des apokalyptischen Zeit- und Selbstverständnisses Luthers, das K. in systematischer Perspektive als zentralen Grundzug von Luthers Geschichtsdeutung entfaltet, konzentriert er sich darüber hinaus auf Aussagen Luthers über Epikur und den Epikureismus. Diese zeitgenössische Erscheinungsform identifiziert K. als »Atheismus«, der sich für Luther »als endzeitliche Ereignung des Zornes Gottes« (349) manifestiert. K.s bedenkenswerte Deutung des Atheismus bei Luther, die um der postmodernen Anschlussfähigkeit willen ausgearbeitet wird, sollte m. E. allerdings stärker in ihrem historischen Rahmen verortet und belassen werden. Die erheblichen Unterschiede zwischen dem, was Luther in Bezug auf Erasmus von Rotterdam über Epikur formuliert, und dem, was seit dem 19. Jh. unter Atheismus verstanden wird, können nicht schlichtweg ignoriert werden. Folglich dürfte auch die von K. mittels des Epikureismus geschlagene Brücke ins 21. Jh. nur sehr begrenzt tragfähig sein. Gleichwohl signalisiert K.s Interpretation, dass bezüglich der Atheismusthematik bei Luther noch erheblicher Forschungsbedarf besteht.
K.s Studie gipfelt in »abschließenden Überlegungen« (IV.). So betont er die »Vergleichbarkeit der soteriologischen Grundsituation« zwischen Spätmittelalter und Gegenwart (391) durch die Perspektive des an Luther geschulten theologischen Wirklichkeitsverständnisses und will die Trennung der Zeiten durch »den Graben der Aufklärung« – in m. E. fragwürdiger Weise – als »scheinbar« erweisen (395). Unter der Rubrik »Lutherrezeption und Lutherdeutung im Spiegel des reformatorischen Geschichtsverständnisses« (397) sucht K., Luther als Gesprächspartner für heute anhand der zuvor ausgearbeiteten Themen fruchtbar zu machen. So befasst er sich mit der »geschichtsphilosophischen Umformung von Luthers Freiheitsbegriff« (399), mit der »Existenzdialektik von Gesetz und Evangelium« (401), mit den »Ursachen für den Ausfall theologisch qualifizierenden Redens von Schöpfung und Geschichte« (405) und der Problematik des »Schweigen[s] Gottes als Thema der neueren systematischen Theologie« (411). In einem Resümee betont K. die »Gleichzeitigkeit differenter Erfahrungen der Wirkgegenwart Gottes in der späten Moderne« (421), die er u. a. in der auszuhaltenden Erfahrung der Spannung zwischen deus revelatus und deus absconditus erblickt.
Auch wenn der kritische Leser nicht alle von K. vorgetragenen Denkbewegungen nachvollziehen kann, was u. a. K.s komplexer Sprachgestalt geschuldet ist, enthält der hier vorgelegte Zugang zu Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis zahlreiche höchst bedenkenswerte Anregungen. Schon aufgrund dieser materialhaltigen und vieldimensionalen Anregungen lohnt es sich, das umfangreiche Werk zu studieren und sich mit K.s Lutherinterpretation auseinanderzusetzen.