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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1237-1240

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Sträter, Udo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hrsg. in Verbindung m. H. Lehmann, Th. Müller-Bahlke, Ch. Soboth u. J. Wallmann. 2 Teilbde.

Verlag:

Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Niemeyer Verlag (de Gruyter) 2009. XXXI, 895 S. m. Abb. gr.8° = Hallesche Forschungen, 28/1 u. 28/2. Kart. EUR 159,95. ISBN 978-3-11-023009-3.

Rezensent:

Martin H. Jung

Die beiden aufwändig und sorgfältig redigierten Bände dokumentieren den 2. Internationalen Pietismuskongress, der im Jahre 2005 in Halle stattfand. Als sie 2009 erschienen, war der 3. Kongress bereits im Gange, und der 4. Kongress wird jetzt vorbereitet. Die 67 Einzelbeiträge dokumentieren auf eindrückliche Weise die Intensität, die Interdisziplinarität und die Internationalität der gegenwärtigen Pietismusforschung. Ein einleitender Beitrag von Udo Sträter, dem halleschen Kirchenhistoriker, dem diese erfolg- und ertragreiche Vernetzung der Pietismusforschung vor allem zu verdanken ist, bilanziert den aktuellen Stand der Forschung und macht mit den neuesten Entwicklungen bekannt.
Am Kongress nahmen 203 Teilnehmer aus zwölf Ländern teil. 2001, beim 1. Kongress, waren es 300 Teilnehmer aus 19 Ländern gewesen. Wohlweislich hatten die Veranstalter im Vorfeld des 2. Kongresses anders als beim ersten ein Thema vorgegeben: Anthropologie. Gleichwohl sprachen nicht alle Beiträger zum Thema. Ein Teil der jetzt gedruckt vorliegenden Beiträge behandelt ekklesiologische Fragestellungen. Aber da die Kirche auch im Pietismus aus Menschen bestand, hängt dann doch wieder alles mit allem zusammen. Ein Bericht über die Erschließung der Archivbestände zur dänisch-halleschen Mission hat aber mit beidem nichts zu tun und sprengt den thematischen Rahmen.
Anthropologie ist ein zentrales Thema, nicht nur für den Pietismus und nicht nur aus der Sicht der Theologie. Die theologische Anthropologie begreift den Menschen als Geschöpf Gottes, aber auch als dem Tode verfallener Sünder. Sie begreift ihn als Partner, mitunter Werkzeug Gottes, aber auch als Gottes Gegner, ja Feind. Sie fragt nach der Bedeutung der dem Menschen in der Bibel als dem einzigen Geschöpf Gottes zugesprochenen Gottebenbildlichkeit. Die Vernunftbegabung und die Willensfreiheit und die Frage nach dem Gott gefälligen Leben kommen in den Blick. Vollkommenheit, Heiligung, Heilung sind gerade für die Anthropologie des Pietismus zentrale Themen.
Ein systematisierender Zugriff findet jedoch nicht statt. Die den Kongress begleitenden, im Tagungsband einleitend abgedruckten Hauptvorträge stammen von einem Neutestamentler (Udo Schnelle), zwei Kirchenhistorikern (Albrecht Beutel, Martin Brecht), einem Literaturwissenschaftler (Carsten Zelle) und einem Medizinhistoriker (Jürgen Helm). Die Herausgeber des Bandes verzichten auch auf eine systematisierende Bilanz. Wer nach dem inhaltlichen Ertrag des Kongresses fragt, muss sich die 895 Druckseiten selbst vornehmen. Auch Anthropologie wird nicht definiert. Hin und wieder finden sich Definitionen in den Einzelbeiträgen, manchmal versteckt in den Anmerkungen. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer, Privatdozent in München, beispielsweise versteht darunter »diejenige Wissenschaft …, die versucht, das menschliche Dasein in seiner Struktur und Eigenart zu erkennen und zu begreifen und die Frage nach seiner Sinnhaftigkeit zu beantworten« (345). Auch eine solche Definition hätte dem Kongress und dem Tagungsband eine Struktur geben können. Die Verantwortlichen gingen jedoch einen pragmatischen Weg.
Die Beiträge werden in Themenblöcken präsentiert, die Bereiche und Disziplinen der Pietismusforschung abbilden: Vorgeschichte, »begleitende Strömungen«, Pädagogik, Gemeinschaft, Kommunikation, Mission, Kunst, Musik, Literatur, Medizin und, besonders wichtig, »Spielarten und Facetten theologischer Anthropologie im Pietismus«. Auffallend ist, dass sich unter den Beiträgern nur wenige etablierte Pietismusforscher finden, überwiegend handelt es sich um Nachwuchswissenschaftler, die sich im Horizont ihrer abgeschlossenen oder geplanten Dissertationen und Habilitationen bewegen und denen der Kongress eine willkommene Plattform bot, sich zu präsentieren. Nicht alles ist wirklich neu; dies betrifft auch die Hauptvorträge. Auffallend ist ferner, dass sich die meisten Beiträger einzelnen Personen und nicht Themen als solchen zuwenden. Die Reihe reicht von Johann von Staupitz, geboren um 1465, bis zu Marie Frech, einer 1995 verstorbenen württembergischen Pietistin. Der Bogen ist also weit, sehr weit gespannt, was den – aus meiner Sicht bewährten – Ansatz des Standardwerks »Geschichte des Pietismus« widerspiegelt. Schon beim flüchtigen Blick auf das Inhaltsverzeichnis fallen unter den historischen Personen viele unbekannte Namen ins Auge wie Christoph Semler, Paul Eugen Layritz, Carl Joseph von Campagne. Doch daneben gibt es deutliche, an bekannten Personen orientierte Schwerpunkte. Arndt, Spener, Arnold, Freylinghausen und Zinzendorf werden gleich mehrfach thematisiert. Der Blick ins Personenregister ergibt ferner Böhme, Francke, Luther und – überraschend – Johann Georg Gichtel als häufig behandelte und zitierte Gestalten.
Mehrere Beiträge behandeln auch Jane Leade. Zu Recht wird auf diese interessante und wichtige, von der Forschung bislang vernachlässigte Gestalt aufmerksam gemacht. Der Marburger Theo­loge Marcus Meier, bekannt durch seine Dissertation über die Schwarzenauer Neutäufer (2008), stellt ihre Visionen vor und ordnet sie zwischen Böhme und der Frühaufklärung ein. Leade erwartete nicht einfach die Erneuerung des inneren Menschen, sondern die »Verwandlung des menschlichen Körpers« (140), und inspirierte mit ihrem Gedankengut den radikalen Pietismus. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Becker-Cantarino, Research Professor an der University of North Carolina und bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Frauengeschichte, konzentriert sich auf Leades Erwartung eines neuen Jerusalems nach Offb 21 und schlägt die Brücke zu William Penn und seinen Toleranz- und Friedensutopien.
Originell, den gängigen und bekannten Themenhorizont spren­gend, ist auch ein Beitrag zum Thema Baukunst. Matthias Franke, Architekturhistoriker in Berlin, stellt Äußerungen Speners aus dem Jahre 1700 vor und zeigt, wie sich pietistische Überzeugungen auf Potsdamer und Berliner Bauprojekte auswirkten.
Unverzichtbar im Rahmen der Anthropologiethematik ist der Komplex Ehe und Sexualität. Mehrere Beiträge beleuchten ihn aus unterschiedlichen Perspektiven. Wolfgang Breul, Kirchenhistoriker und Professurvertreter in Mainz, untersucht Arnolds Abkehr vom ehelosen Leben, und Peter Vogt, Pfarrer der Brüdergemeine Niesky, die »Ehereligion« Zinzendorfs. Eberhard Fritz, Archivar beim Herzog von Württemberg, schildert im Horizont seiner Dissertation die sexuelle Askese württembergischer Radikalpietisten. Thomas K. Kuhn, Ethikprofessor an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und von Hause aus Kirchenhistoriker, behandelt das Thema an den Erweckungsbewegungen des 19. Jh.s. Als Arnold im Jahre 1701 die Ehe schloss, reagierten nicht wenige radi­kale Pietisten mit Entsetzen. Johann Georg Gichtel war der Ansicht, Ar­nold habe sich damit selbst seines Einflusses und seiner Wirkungsmöglichkeiten beraubt. Dieser rechtfertigte sich jedoch in bewährter Weise unter Rückgriff auf die Kirchenväter. Sexualität hielt jedoch auch der verheiratete Arnold für ein »Signum des gefallenen Menschen« (368). Zinzendorf dagegen hatte zur Sexualität des Menschen ein rundweg positives Verhältnis. Als »fleischliche Lust« wurde nicht der Sexualakt als solcher verurteilt, sondern nur, »wenn das Gemüt die ursprüngliche Empfindung durch gedankliche Re­flektionen festzuhalten und zu vertiefen sucht« (377). Der württembergische Leinenweber und Radikalpietist Johann Georg Rapp verlangte in seiner in Pennsylvania gegründeten Siedlung völlige sexuelle Enthaltsamkeit, auch von Ehepaaren. Abweichler wurden ausgeschlossen. Die Erfahrungen zeigten jedoch, dass »[i]n einer größeren Gruppierung … die sexuelle Askese nur durch die autoritäre Position einer Führergestalt durchsetzbar« war (390). Im 19. Jh. erlebte die Betrachtung der Ehelosigkeit als Ideal einen neuen Aufschwung. Gleichwohl gab es unter den Erweckten auch Stimmen, die Ehe und Sexualität positiv bewerteten. Zu ihnen gehörte der erweck­te Mediziner Ernst Joseph Gustav de Valenti, der in Thüringen und in der Schweiz wirkte und mehrere, von der Forschung bislang unbeachtete Eheschriften verfasste. Für de Valenti dient die Ehe einem dreifachen Zweck. Sie ist die Gemeinschaft zweier Partner, sie ermöglicht Nachwuchs und sie dient der Befriedigung des Geschlechtstriebs. Die »Befriedigung leiblicher Bedürfnisse«, der nach de Valenti auch der Geschlechtstrieb dient, sei »nach dem Sündenfalle nicht als Sünde, sondern bloß als Schwachheit zu betrachten« (404).
Die Beiträge behandeln ein riesiges Themenspektrum, und auf den ersten Blick mag man nichts vermissen. Auf den zweiten Blick aber fällt auf, dass der konfessionell evangelische Horizont nicht überschritten wird. Jansenismus, romanische Mystik, Allgäuer Erweckung kommen nicht vor. Die Namen Sailer, Henhöfer, Boos, Lindl sucht man vergeblich. Der Pietismusforschung ist es bislang nicht gelungen, die Konfessionsgrenze zu sprengen, obwohl es von der Sache her geboten wäre. Freilich ist die im deutschen Sprachraum angesiedelte katholische Theologie an diesen Themen auch nicht sonderlich interessiert.
Die Pietismusforschung ist interdisziplinär, aber sie arbeitet nicht interdisziplinär. Die Beiträger präsentieren klassische kleine Einzelforschungen und arbeiten nicht mit disziplinär unterschiedenen Blickwinkeln und Methoden am selben Thema und an denselben Quellen. Abgesehen von Halle gibt es kaum größere Forschungsprojekte unter Beteiligung der theologischen Pietismusforschung. Dies hängt auch damit zusammen, dass heute, anders als vor zehn, 15 Jahren, wieder abgesehen von Halle, kirchenhistorische Lehrstühle an theologischen Fakultäten nicht mehr mit Pietismusforschern besetzt sind. Die Berufungspolitik der Fakultäten führte zu einer einseitigen Bevorzugung der Reformationsgeschichte unter Vernachlässigung der Pietismus-, aber auch der Zeitgeschichte. Mittel- und langfristig wird das für die Pietismusforschung gravierende Folgen haben.
Einzelne Beiträger hatten nicht im Blick, für welches Publikum sie schreiben. Allgemeinwissen über die Herrnhuter Brüdergemeine im Wikipedia-Stil (306.326.329) hat in einem nur von Spezialisten gelesenen Buch keinen Platz. Hier hätten die Herausgeber den Autoren etwas stärker auf die Finger sehen können. Wünschenswert und für an die Tagungsbände anknüpfende Forschungen hilfreich wäre es gewesen, in einem Anhang elementare biographische und bibliographische Informationen über die einzelnen Beiträger, natürlich auf dem Stand von 2009, zu präsentieren.
Die beiden durchweg gehaltvollen, durch zuverlässige Personen- und Ortsregister gut erschlossenen Bände stellen eine Fundgrube zuverlässigen, durch detaillierte Quellenhinweise belegten Wissens für alle in der Pietismusforschung Engagierten dar, die in keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen sollte. Für den Ta­gungsband des 3. Kongresses 2009 wünscht man sich ein rascheres Erscheinen, nicht erst im Jahr des 4. Kongresses.