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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1235-1237

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Spliesgart, Roland

Titel/Untertitel:

»Verbrasilianerung« und Akkulturation. Deutsche Protestanten im brasilianischen Kaiserreich am Beispiel der Gemeinden in Rio de Janeiro und Minas Gerais (1822–1889).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2006. 608 S. gr.8° = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte, 12. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-05480-5.

Rezensent:

Fernando Amado Aymoré

Das Werk des evangelischen Theologen und Kirchenhistorikers Roland Spliesgart ist das erfolgreiche Ergebnis seiner Habilitation und wurde von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als entsprechende Leis­tung 2004 angenommen.
Entstanden ist die Idee zu diesem Werk mit einem neuen Blick­winkel: S. beabsichtigte einen Beitrag zur deutschen Kirchengeschichte zu verfassen, jedoch »konsequent aus einer brasilianischen Perspektive«. Eingebettet war sein Vorhaben in das von Klaus Koschorke und Johannes Meier initiierte Projekt einer Außereuropäischen Christentumsgeschichte. Folglich konnte die Habilitation von 2004 innerhalb der von Koschorke und Meier herausgegebenen Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte beim Verlag Harrassowitz in Wiesbaden 2006 als Band 12 erscheinen. S. ist ein Buch von 608 Seiten gelungen, dessen Lektüre wegen des bereits zitierten Perspektivwechsels gleichwohl leicht fällt.
Die Geschichte des neuzeitlichen Christentums aus außereuropäischer Sicht war lange Zeit ein Desiderat der Forschung, dem in der Kirchengeschichtsschreibung jüngeren Datums erfreulicherweise Rechnung getragen wird. Die neue numerische Gewichtung der christlichen Gemeinschaften weltweit mit der abnehmenden Tendenz des christlichen Glaubens im Abendland genügt bereits als Rechtfertigung. Das ist jedoch nicht das Entscheidende. Wichtiger für die Wahrung der Interdisziplinarität der Forschung ist die Horizonterweiterung, die dieser Paradigmenwechsel bietet. Die nationalstaatlich motivierte Kirchengeschichte, die noch fast alle dem Rezensenten bekannten Arbeiten des 20. Jh.s (bis ca. 1970) klar dominierte, wird endgültig zu Grabe getragen. Es wurde auch Zeit: Sie ruhe in Frieden!
Das Werk von S. ist ein konkretes Beispiel für diesen Erkenntnisgewinn, der nicht zuletzt an seiner historisch-anthropologischen Methode liegt. Die Idee zur Geschichte der Auswanderung und Anpassung der deutschen Protestanten an ihre neue Heimat Brasilien im 19. Jh. und diejenige des sich daraus entwickelnden, zunehmend eigenständigen brasilianischen Protestantismus, kam S. erstmals 1992 im Rahmen eines Kolloquiums an der Universidade Federal do Rio de Janeiro in Brasilien selbst.
S. interessiert sich also weniger für Heimatkunde oder Herkunftsmerkmale seiner untersuchten Zielgruppen, sondern für das, was aus ihnen nach der Ankunft im neuen kulturellen Kontext wurde. Die historisch-anthropologische Methode aus der Schule Richard van Dülmens bietet S. den Vorteil, den zentralen Begriff der Akkulturation als eigenständiges lokales Phänomen zu verfolgen, die in dieser Form mit großem Gewinn auch in der historischen Ethnologie angewandt wird, etwa in der breiten Forschung zur Christianisierung der indigenen Völker in der Kolonialzeit.
Folglich fügt S. die überwiegend deutschsprachigen Protestanten, wie man sie korrekterweise nennen müsste – (denn es fielen außer den »Deutschen« auch Schweizer, Österreicher, Flamen, Polen, Holländer und Skandinavier in diese Zielgruppe, aber sie wurden von den Brasilianern wegen ihres Aussehens, des gemeinsamen protestantischen Glaubens und der unverständlichen Sprachen undifferenziert als »alemães« wahrgenommen) – in den Kontext der Untersuchung der Kulturmischung (miscigenação) ein, aus der ganz Amerika und besonders Brasilien bestehen.
S. geht wie bei einer Feldforschung vor. Vier repräsentative protestantische Einwanderergemeinden des brasilianischen Kaiserreiches werden gründlich untersucht: Nova Friburgo und Petrópolis im Bundestaat Rio de Janeiro sowie Teófilo Otoni und Juiz de Fora im Bundesstaat Minas Gerais. Er beherrscht die Phasen der europäischen Geschichte, die die Auswanderungswellen dorthin bedingten, ebenso souverän wie die politische Reaktion in Brasilien auf das Phänomen der Einwanderung.
Durch die Auswahl von vier konkreten Gemeinden gewinnt das Werk an Solidität und Tiefe. In manchen Abschnitten liefert es wertvolle, dem heutigen Brasilianer immer noch wenig bekannte Einblicke in die Alltags- und Frömmigkeitsgeschichte der sich vom ersten Tag an proaktiv anpassenden und mit ihrer neuen Umwelt offen kommunizierenden Protestanten. Die Einwanderer arrangierten sich mit dem barocken Katholizismus, den afrobrasilianischen Kulten der Sklavenbevölkerung und gegen Ende des 19. Jh.s sogar mit der aufkommenden religiösen Bewegung des Spiritismus von Léon Hippolyte Dénizart Rivail (1804–1869) alias Allan Kardec. Daraus wurde Luther, Zwingli, Calvin und auch Kardec ein bloß aus damaliger europäischer Sicht sehr exotisches, aber in seiner Umwelt gesund wachsendes und unbekümmertes »Kind« geboren, welches sich um die Meinung der Europäer wenig scherte: der brasilianisch-protestantische Synkretismus.
S. räumt auf breiter Quellenbasis, die sich aus europäischen Kirchenarchiven und Gemeindebeständen in Rio und Minas speist, mit beiderseitigen Stereotypen auf – sowohl mit der Verbohrtheit der Reichstagsdiskussion um die »Verbrasilianerung« der Auswanderer als Dekadenz höherer Kulturwesen »unter Affen« als auch mit der nicht weniger blauäugigen Engstirnigkeit der brasilianischen Forschungstradition, etwa in der Nachfolge des berühmten »Vaters der Soziologie« Gilberto Freyre (1900–1987), für den der europäische Protestantismus ob seiner angeblichen Freudlosigkeit und Intoleranz mit der brasilianischen Mentalität unvereinbar schien. Demnach seien die Protestanten in Lateinamerika deshalb zu einem Dasein als Außenseiter verdammt.
S. gelingt der Nachweis des Gegenteils: Die deutschen Einwanderer passten sich der neuen brasilianischen Umwelt vom ersten Tag an, mit zunehmendem Wohlgefallen, und ließen sich nicht von europäischen Meinungen von ihrer Akkulturation abbringen. Sie nahmen Sklaven in ihre Haushalte als Dienstpersonal auf, die nominell selbst protestantisch wurden, ihre Kulte und magische Riten jedoch mitbrachten und bei ihnen durchsetzten.
Die Sprache der Einwanderer entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem eigenständigen »Portudeutsch«. Man konnte in diesem kulturellen Kontext Sätze wie diese finden: »Die Itália war der primerste vapor auf der ganzen rio« (»Die Itália war das erste Dampfschiff auf dem ganzen Fluß«). Das sagt alles. Die überwiegend deutschsprachigen Protestanten wurden entgegen der »Verbrasilianierungsdebatte« wegen ihrer bäuerlichen Frömmigkeitstradition sehr wohl integriert und erfolgreich »verbrasilianisiert«. Mehr noch: Sie waren von Anfang an »verbrasilianerungsfähig«.
Kritisch bleibt nur anzumerken, dass sich S. – vielleicht aus einem gewissen Perfektionszwang heraus – mit der Erwähnung seiner leitenden Thesen zu oft wiederholt. Sie tauchen im Vorwort und im Fazit der Arbeit auf, wo sie willkommen sind und erwartet werden, jedoch überflüssigerweise immer wieder auch an vielen anderen Stellen und im Abschluss etlicher Abschnitte. Das ist der einzige ermüdende Aspekt des gelungenen Werkes.
Als vergessenes Stiefkind der deutschen Amerikanistik be­kommt gerade die Forschung zum größten Land mit der stärksten Wirtschaft Lateinamerikas, dessen Religiosität aus vielen und eben auch aus protestantischen Quellen stammt, mit S.s Buch einen würdigen und originellen Beitrag.