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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1233-1235

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Spener, Philipp Jakob

Titel/Untertitel:

Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 2: 1688. Hrsg. v. J. Wallmann in Zusammenarbeit m. K. vom Orde.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XXXV, 651 S. gr.8°. Lw. EUR 179,00. ISBN 978-3-16-149175-7.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Der insgesamt siebente Band der Edition der Briefe Philipp Jakob Speners ist der letzte, der in der Herausgeberschaft von Johannes Wallmann erscheint. Er markiert insofern eine Epoche in der Ge­schichte des ambitionierten Vorhabens, das vor einem Vierteljahrhundert von Wallmann initiiert und seitdem ununterbrochen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert worden war. In dieser Zeit sind aus der wichtigen Frankfurter Wirkungsperiode Speners (1666–1686) in bislang vier Bänden die Briefe der Jahre bis 1680 erschienen, aus seiner Dresdner Wirkungsperiode als kursächsischer Oberhofprediger (1666–1691) in zwei von vier geplanten Bänden die Briefe bis 1688; der fünfte Band der Frankfurter Briefe ist bis zur Druckreife gediehen. Außer der Reihe erschien 2006 der Briefwechsel zwischen Spener und August Hermann Francke.
Die Briefe Speners stellen für die Erforschung des frühen lutherischen Pietismus, aber auch für die Kirchen- und Kulturgeschichte der Neuzeit schlechthin eine einzigartige Quelle dar. Nicht, dass diese Briefe zuvor völlig unbekannt gewesen wären. Noch zu Lebzeiten Speners begannen mehrbändige Sammlungen seiner Briefe und theologischen Gutachten zu erscheinen. Doch sind die Texte hier mitunter verderbt, vor allem aber wurden regelmäßig die Adressatenangaben und teilweise auch die genauen Daten getilgt. Nicht zuletzt sind inzwischen zahlreiche weitere, handschriftlich oder in anderen alten Drucken überlieferte Briefe und Briefkonzepte Speners bekannt. Die Edition Wallmanns bietet erstmals alle bekannten Briefe Speners in chronologischer Folge und weist, soweit möglich, aufgrund von Konjekturen oder Parallelüberlieferungen die Adressaten nach. Jeder Brief wird durch ein ausführliches Regest eingeleitet, der sorgfältig rekonstruierte Text wird von einem textkritischen und einem kommentierenden Apparat be­gleitet. Der zusätzlichen inhaltlichen Erschließung dient ein Personen-, Orts- und Bibelstellenregister.
Wie die gedruckten Sammlungen, so enthält auch die Ausgabe Wallmanns nur die von Spener an andere versandten Briefe, nicht hingegen die eingehende Korrespondenz, was angesichts der hierfür erheblich schlechteren Überlieferungslage kaum zu ändern, aber gleichwohl zu bedauern ist. Anders als in den alten Sammlungen sind hingegen die nicht als Briefe im strengen Sinne zu verstehenden Gutachten Speners nicht aufgenommen worden. Eine Ausnahme davon macht das im anzuzeigenden Band im Anhang unter Nr. 146 gebotene Stück. In diesem Auszug aus einem Gutachten für Hermann von der Hardt vom 10.12.1688 hat Spener sich in bemerkenswerter, in der lutherischen Theologie der Zeit beispielloser Weise zur Problematik des Krieges geäußert: Auch wenn der Krieg grundsätzlich ein von Gott gebotenes Liebeswerk sein könne, sei die Kriegführung, so wie sie sich gegenwärtig nach ihren Motiven und Umständen darstelle, Gott ausnahmslos und in jedem Falle ein Gräuel. Aufgrund ihrer inhaltlichen Exzeptionalität und ihrer weitgehenden Unbekanntheit hat diese von Wallmann als »pragmatischer Pazifismus« charakterisierte Stellungnahme hier Aufnahme unter die Briefe des Jahres 1688 gefunden.
Die echten Briefe des Jahres 1688 umfassen 145 laufende Nummern, von denen 31 nicht in den alten Sammlungen stehen; die große Zahl erforderte es erstmals, einen Band der Edition der Korrespondenz eines einzigen Jahres zu widmen. Anderthalb Jahre nach Speners Übersiedlung nach Dresden treten die Verbindungen nach Frankfurt immer mehr zurück. Wichtigste Korrespondentin am früheren Wirkungsort ist für Spener die Arztwitwe Anna Elisabeth Kißner, an die er in diesem Jahr neun Briefe schreibt – so viele, wie an keinen anderen Adressaten. Im Übrigen korrespondiert Spener mit Persönlichkeiten aus dem sächsischen Raum ebenso wie aus anderen deutschen Territorien und aus dem Baltikum. Unter seinen Briefpartnern sind gekrönte Häupter, Gelehrte und Geist­-liche; häufig antwortet Spener auf vorangegangene briefliche An­fragen. Die Sprache der Briefe ist überwiegend Deutsch, vor allem an Gelehrte schreibt Spener aber gewöhnlich auf Latein.
Die Situation des Jahres 1688 beschreibt Wallmann in seinem instruktiven Vorwort treffend als die »Ruhe vor dem Sturm« der 1689 von Leipzig ausgehenden pietistischen Streitigkeiten. Auch wenn das Schlagwort vom »Pietismus« noch nicht in der Welt ist, so lässt Spener vereinzelt spüren, dass er sich als Oberhaupt der später damit belegten Erneuerungsbewegung weiß. Und bereits in der zweiten Jahreshälfte hat er sich mit den in Hamburg ausbrechenden Kontroversen um seine Parteigänger Johann Winckler und Johann Heinrich Horb zu befassen.
Sonst beschäftigen Spener 1688 in seinen Briefen vor allem die Einrichtung verpflichtender Katechismusexamina in allen Kirchen­gemeinden durch den kursächsischen Landtag sowie seine eigenen Dresdner Katechismusübungen, ferner der damals viel er­örterte Reunionsplan des Straßburger Jesuiten Jean Dez. Kurz ge­nannt seien einige Einzelthemen, auf die Speners Briefe des Jahres 1688 Schlaglichter werfen: Gegenüber dem Stuttgarter Konsistorialrat Johann Georg Kulpis nimmt Spener zu den verschiedenen lutherischen theologischen Fakultäten und ihren Professoren Stellung (Nr. 20). Eine übertriebene Strenge in der Kindererziehung lehnt Spener ab; im Vergleich zur späteren Halleschen Pädagogik Fran­-ckes zeigt er sich deutlich liberaler (Nr. 108). Von Luther und seiner strikt imputativ verstandenen Rechtfertigungslehre fühlt er sich durch die geänderten Zeitverhältnisse, die durch falsche Glaubenssicherheit statt durch Gerichtsangst gekennzeichnet seien und die Einschärfung des frommen Lebens erforderten, getrennt (Nr. 131).
Das Ausscheiden von Johannes Wallmann, der im Mai 2010 sein 80. Lebensjahr vollendet hat, aus der Herausgeberschaft bedeutet glücklicherweise nicht das Ende der Spener-Briefausgabe, die von Wallmanns Schüler Udo Sträter in der Trägerschaft des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung in Halle fortgesetzt wird. Die noch ausstehenden Bände werden besonders spannende Stationen in Speners Biographie abdecken: die Auseinandersetzung mit dem Frankfurter Radikalpietismus, die großen Streitigkeiten mit der lutherischen Orthodoxie nach 1689 und die Verbreitung und Verwurzelung des Pietismus in Preußen. Die bleibende Aufmerksamkeit der Forschung ist diesem editorischen Großunternehmen gewiss.