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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1231-1233

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Nissen, Martin

Titel/Untertitel:

Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900).

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2009. 375 S. m. Tab. 8° = Beiträge zur Ge­schichtskultur, 34. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-412-20283-5.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Zu den zentralen Themen der Historik gehört die Frage nach den Formen und Funktionen der Geschichtsschreibung. Gängig ist die These, dass Geschichtsschreibung, für die ein wissenschaftsspezi­fischer Geltungsanspruch reklamiert wird, von einem breiten Lesepublikum nicht rezipiert wird bzw. nicht rezipiert werden kann. Wie das jetzt erschienene Werk Populäre Geschichtsschreibung von Martin Nissen, der sowohl Historiker als auch Bibliotheksreferendar ist, anschaulich belegt, war dies nicht immer der Fall. In seiner an der Humboldt-Universität eingereichten und von Rüdiger von Bruch und Wolfgang Hardtwig betreuten Dissertation zeigt N. vielmehr, dass bereits im späten 18. und dann vor allem im 19. Jh. sowohl fachwissenschaftliche als auch populäre historische Werke von einem breiten Lesepublikum rezipiert wurden. Populäre Ge­schichtsschreibung als zentrale Untersuchungskategorie seiner Studie definiert N. dabei als »Geschichtsschreibung, die sich vorrangig an einen Leserkreis jenseits der Fachlichkeit wandte« (23). Die Studie verdeutlicht, dass populäre Geschichtsvermittlung aufgrund der »regionalen, politischen, sozialen und konfessionellen Segmentierung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts« (26) auf vielfältige Weise erfolgte, d. h. es gab im 19. Jh. eine Vielzahl von Publi kations- und Darstellungsformen populärer Geschichtsschreibung. Da gerade populäre Geschichtsschreibung in besonderer Weise den Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes und dem häufig wechselnden Geschmack des Publikums unterworfen ist, richtet N. bei der Untersuchung populärer historischer Werke sein Augenmerk besonders auf die Rezensionen, die Auflagenzahlen, die private Korrespondenz zwischen Autoren und Verlegern, die Bib­liothekspräsenz von Büchern sowie auf entsprechende Ausleihkata­loge von Bibliotheken. Der Untersuchungszeitraum der Studie umfasst vor allem die zweite Hälfte des 19. Jh.s.
Um die Struktur der historischen Wissensproduktion und der entsprechenden Wissensvermittlung sachgerecht zu untersuchen, unterscheidet N. zwischen drei unterschiedlichen Untersuchungsebenen: dem Entstehungskontext, bei dem auch die Soziobiographie der Autoren immer zu berücksichtigen ist, dem Rezeptionsraum und dem Buchmarkt. Diese Ebenen spiegeln sich auch im Aufbau der Studie.
Das erste Kapitel untersucht das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Professionalität, der fortschreitenden Institutionalisierung und der unvermeidbaren Spezialisierung des Faches. Das zweite Ka­pitel behandelt die buchhandels-, verlags- und bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen der Produktion und Rezeption von historischen Darstellungen und stellt die Programmpolitik ausgewählter Verlage in der Sparte Geschichte vor. Zu Recht macht N. auf das Dilemma der historischen Forschung am Ende des 19. Jh.s aufmerksam. Einerseits wurde von der Fachhistorie die Spezialisierung vorangetrieben und das Methodeninstrumentarium des Faches kon­- tinuierlich weiterentwickelt, andererseits beklagten die akade­mischen Fachleute in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jh.s zunehmend den Verlust der Fähigkeit, menschliches Handeln durch historisches Wissen sinnvoll zu orientieren. Insbesondere der Mangel an historischen Syntheseversuchen, die die aktuellen Orientierungsbedürfnisse ihrer Zeitgenossen hätten befriedigen können, wurde von den Fachleuten beklagt. Völlig anders sah dies in den Jahrzehnten zuvor aus. Seit dem späten 18. Jh. bestimmte das Publikumsinteresse die historische Sinnbildung mit der Konsequenz, dass das historische Wissen zu einem zentralen Bestandteil der bürgerlichen Kultur wurde. Entscheidend hierfür war dann nach 1840 die historische Legitimation der kleindeutschen Na­tionsbildung. Neben den Geschichtswerken der Fachhistorie, die aufgrund der Durchsetzung narrativer Sinnbildungsprozesse auch von einem breiten Lesepublikum rezipiert werden konnten, traten zunehmend auch Geschichtswerke von Journalisten, Juristen, Lehrern und Geistlichen. Diese Werke prägten das Geschichtsbewusstsein der Deutschen zum Teil stärker als die entsprechenden Arbeiten der akademischen Historiker. Kenntnisreich belegt N. diese Entwicklung durch eine entsprechende Untersuchung des Buchmarktes. Zu den meistgelesenen historischen Werken des 19. Jh.s gehörten beispielsweise die populär verfassten universalgeschichtlichen Werke des Freiburger Professors Karl von Rottecks. So erzielte seine neunbändige Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeit zwischen 1812 und 1868 25 Auflagen.
Das dritte Kapitel behandelt prägnante Deutungsveränderungen in der Geschichtsschreibung und erläutert die gängigen Traditionen, Typen und Methoden populärer Geschichtsschreibung an­hand exemplarischer Werke. N. übernimmt die gängige These, dass ab 1760 die erzählende, ästhetisch gestaltete Ge­schichts­schreibung in verschiedenen europäischen Ländern einen Aufschwung erfuhr, der mit einer verstärkten Methodenreflexion einherging. Diese Methodenreflexion, die im 18. Jh. noch die Frage der Darstellung bei den meisten Historikern einschloss, machte das historische Wissen für einen breiten Leserkreis verständlich. Die sozial wirksamen Orientierungsbedürfnisse der Menschen wurden nun durch historische Erinnerungsarbeit befriedigt. Dies hatte zur Konsequenz, dass sich die Geschichtswissenschaft zu Beginn des 19. Jh.s zur Leitwissenschaft entwickelte. Dabei schlossen sich auch die nicht akademischen Historiker in der ersten Jahrhunderthälfte »nicht nur in ihren Darstellungsformen, sondern auch in ihren politischen Grundhaltungen an die Traditionen der Aufklärungshistorie« (171) an. Zu Recht betont N., dass die populäre Geschichtsschreibung in dieser Zeit ihre prägenden Impulse durch die Erfahrungen der napoleonischen Kriege und die sich entwickelnde deutsche Na­- tionalbewegung erfuhr. Eine weitere Zäsur erlebte die populäre Geschichtsschreibung durch die 48er Revolution und den neuen Realismus der 1850er Jahre. Sowohl die politische Geschichtsschreibung als auch die Kulturgeschichtsschreibung, die in der Fachwissenschaft lediglich ein Schattendasein führte, erfuhren nun einen enormen Aufschwung. Nach der Reichsgründung verlor der deutsche Nationalstaat als zentrales Thema der politischen Geschichtsschreibung seine Aktualität. Die Fachwissenschaft wandte sich jetzt verstärkt der Spezialforschung zu.
Prägnant beschreibt N. die unterschiedlichen Formen populärer Geschichtsschreibung. Eine eindeutige Unterscheidung der Geschichtswerke in wissenschaftliche und populäre war »von Be­ginn an« (16) nicht möglich. Die Popularhistoriker vermittelten dem breiten Lesepublikum nicht nur das von den Universitätsgelehrten erarbeitete historische Wissen, sondern auch eigene Forschungsleistungen und Geschichtsdeutungen. Der Vorwurf der Wissenschaftler, dass die Popularhistoriker lediglich Dilettanten seien, war, so N., häufig unbegründet gewesen. Die heute oft beklagte Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gab es, so die überzeugenden Ergebnisse der Studie von N., im 19. Jh. nicht.
Das vierte Kapitel untersucht exemplarisch Gustav Freytags kulturgeschichtliches Werk Bilder aus der deutschen Vergangenheit, das zwischen 1859 und 1866 im Salomon Hirzel Verlag in Leipzig erschien und zu den erfolgreichsten populären Geschichtswerken des 19. Jh.s zählt. Der Erfolg dieses Werkes liegt darin begründet, dass es Freytag gelang, seinen »Lesern den Wahrheitsgehalt der Erzählung [zu] suggerieren, ohne sich in der Freiheit der Darstellung beschränken zu müssen« (301).
Der Band stellt nicht nur ein reichhaltiges, bisher zu wenig be­achtetes Material zur Verfügung, sondern er gibt wertvolle Denkanstöße, die das Verständnis der Geschichtsschreibung im 19. Jh. wesentlich fördern werden.