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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1223-1225

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bandt, Cordula

Titel/Untertitel:

Der Traktat »Vom Mysterium der Buchstaben«. Kritischer Text mit Einführung, Übersetzung und Anmerkungen.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. IX, 260 S. u. 22 Taf. m. Abb. gr.8° = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 162. Lw. EUR 94,95. ISBN 978-3-11-019606-1.

Rezensent:

Theofried Baumeister

Der Zufall brachte es mit sich, dass gerade zu der Zeit, in der ich mit dieser Besprechung befasst war, die Zeitschrift »Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft«, Nr. 13, 2010, auf meinen Schreibtisch gelangte. Gegen Ende des Heftes stößt man auf den Beitrag von Walter Schiffer: »Im Anfang schuf Gott«. Zwei biblische Meditationen (74–80), der zeigt, dass die alte jüdische Buchstabensymbolik bis heute eine Rolle in der Exegese des Anfangs der Bibel spielen kann. Der Autor bezieht sich auf Rabbinen der Antike, die gefragt haben, warum die Tora mit einem Bet, dem zweiten Buchstaben des hebräischen Alphabets, beginnt. Eine Antwort verweist auf die Gestalt des Zeichens, das nach drei Seiten hin geschlossen und nach links in Leserichtung offen sei. Dementsprechend solle man nicht fragen, was vor, über und unter diesem Schöpfungstag sei, sondern die Auslegung solle strikt hier beginnen. Da das Bet den Zahlwert Zwei besitze, sei mit der Schöpfung auch die Grundlage für die kommende Welt gelegt. Hinzu komme die Berührung mit dem Wort »baruch«, so dass gesagt werden könne, das Schöpfungswerk stehe unter Gottes Segen.
Die frühen Christen wussten natürlich, dass Hebräisch die Ur­sprache ihres Alten Testaments war, doch wurde die griechische Septuagintafassung wichtiger, zumal ja die neutestamentlichen Schriften in dieser Sprache vorlagen. Allerdings geriet der jüdische Ursprung der christlichen Buchstabensymbolik nicht ganz in Vergessenheit, da z. B. das griechische Alphabet in der hier vorzustellenden Schrift nach dem Vorbild des hebräischen von 24 Zeichen auf 22 reduziert wurde, indem zwei ausgeschieden wurden, und auch hebräische Bezeichnungen der griechischen Buchstaben be­gegnen. Dabei ist die Form der griechischen Buchstaben von Bedeutung, wie die Form der hebräischen im Fall des einleitend genannten Bet. Um einen Eindruck von der Art des Vorgehens zu vermitteln, sei auf die Deutung des griechischen Delta hingewiesen, in das Alpha, Beta und Gamma als Bild der ganzen Schöpfung eingetragen sind. Das Delta gilt als Haus aller Geschöpfe, das sie wie ein Zelt umschließe. Der Verfasser der Schrift »Vom Mysterium der Buchstaben« fährt fort: »Die drei Buchstaben habe ich ins Innere des obigen Delta gesetzt, weil Gott selbst alle Elemente und alle Geschöpfe darin geschaffen hat: Sei es das Licht; sei es das Firmament; sei es die Teilung der Wasser; sei es das Auftauchen der Erde; sei es das Hervorbringen von Pflanzen; seien es die fruchttragenden Bäume; seien es die Sterne; seien es die Fische; seien es alle Lebewesen – wovon auch immer du sprichst – innerhalb des Delta, das heißt der Zahl Vier, befindet es sich« (c. 12; 122–125). Ein anderes Beispiel ist etwa der Buchstabe Ε, der erklärt wird wie im Schreibunterricht: »Als der Lehrer diesen Buchstaben schuf, bildete er ihn nicht sofort vollständig. Sondern er macht zuerst einen ganzen, geschlossenen Kreis und spricht zum Schüler: Siehe der Kosmos, der im Dunkel liegt. Er lässt den rechten Teil weg und spricht: Siehe ein Eingang für das Licht. Das ist das Σ. Und dann macht er den Strich in der Mitte und sagt: Siehe die Trennung von Licht und Dunkelheit« (c. 13; 126 f.).
Die europäische Forschung lernte das Werk zuerst nach einer koptisch-arabischen Handschrift der Bodleian Library Oxford in koptischer Gestalt kennen, die Adolphe Hebbelynck mit französischer Übersetzung Anfang des 20. Jh.s veröffentlichte, nachdem eine Zeitlang eine gnostische Herkunft erwogen worden war. Später wurden griechische Handschriften des griechischen Originals bekannt, nach denen nun Cordula Bandt ihre kritische Edition des Textes mit deutscher Übersetzung erstellt hat, wobei sie für die Lücken auf den koptischen Text von Hebbelynck zurückgreift, den sie ebenfalls ins Deutsche übersetzt. Der koptische Anfang nennt als Autor Apa Seba, den Presbyter und Anachoreten; die arabische Fassung hat dort Saba. B. folgt dieser Fährte und vermutet, dass der tatsächliche Autor im Kreis der Mönche zu suchen sei, für die der berühmte palästinische Mönch Sabas (439–532), der Gründer der Großen Laura (Mar Saba) südöstlich von Jerusalem, als Autorität galt. Verschiedene Indizien sprechen für eine Abfassung nach Mitte des 6. Jh.s in Palästina, so etwa die Erwähnung von Tourkoi, deren Kenntnis erst seit dieser Zeit im Byzantinischen Reich belegt ist, und ein gewisser palästinischer Lokalpatriotismus. In Form einer Hypothese weist B. hin auf Eustathius den Galater, einen Kalligraphen, den Kyrill von Skythopolis als antiorigenistischen Mönch der Großen Laura nennt. Ein kalligraphischer Autor der Schrift »Vom Mysterium der Buchstaben« ist tatsächlich gut vorstellbar. Die Polemik des Traktats gegen die griechische Philosophie kann gut mit einem Antiorigenismus zusammenhängen. Die Chris­tologie ist ganz orthodox im Sinn des Konzils von Chalkedon.
All diese Fragen erörtert B. präzise, klar und gradlinig in ihrer Einführung zum Text, in der sie nacheinander die Forschungsgeschichte, die Autorschaft mit der Datierung sowie die inhaltliche Struktur des Werkes behandelt und eine Analyse der Schrift bietet. Ein zweiter Hauptteil widmet sich der Traditionsgeschichte der Hauptthemen und geht dabei etwa ein auf die Henochbücher und andere schwierige Fragen der jüdischen Überlieferung. Die christliche Akzentuierung wird besprochen unter der Kennzeichnung »Jesus Christus – das Alpha und das Ω« (78–87), wodurch schon deutlich wird, dass besondere Bezüge zur Offenbarung des Johannes bestehen, die gleich zu Beginn des antiken Werkes thematisiert werden. Ein weiterer Punkt der Erläuterungen ist etwa die Buchstabenspekulation des Gnostikers Markos. Schließlich muss B. natürlich die griechischen Handschriften beschreiben und ihr Verhältnis zueinander bestimmen. Es folgen der Text mit Übersetzung, Anmerkungen, Verzeichnisse der Quelleneditionen und der verwandten Literatur, Register von Stellen, Namen und Sachen sowie Tafeln mit den Abbildungen vor allem von Seiten der koptisch-arabischen Handschrift und der griechischen Manuskripte.
Insgesamt hat B. eine schwierige Aufgabe bestens bewältigt. Man muss ihr dafür dankbar sein, dass sie den eigentlich entscheidenden Text einer schon bekannten koptischen Übersetzung ediert, gut lesbar übersetzt und inhaltlich erschlossen hat. Der Traktat wird heutigen Exegeten kaum oder selten Hilfestellung leisten können, doch kann er dazu beitragen, alte Exegese besser zu verstehen. Wissenschaftsimmanent gedacht, fehlt nun noch eine Bearbeitung des arabischen Textes. Für die ägyptische Kirchengeschichte wüsste man gern, wo genau und warum man die Schrift ins Koptische und Arabische übersetzt hat.