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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1221-1223

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Andresen, Carl

Titel/Untertitel:

Theologie und Kirche im Horizont der An­-tike. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche. Hrsg. v. P. Gemeinhardt.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XI, 338 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 112. Lw. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-021642-4.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Nach dem Tod Carl Andresens 1985 hieß es bei den Verlagen, dass seine Aufsätze gut zugänglich seien. Aber, eine Generation älter als ich, ist A. meiner Nachfolgegeneration weniger gegenwärtig. Jedoch sind seine Aufsätze wie Pflöcke in der Forschung, an die sich anzubinden lohnt, auch wenn man den einen oder anderen der Pflöcke umbiegen oder gar herausreißen möchte. Dem Herausgeber ist zu danken, dass er mit 15 Aufsätzen, darunter drei unpublizierte Vorträge, A.s Beiträge zur Kenntnis der Alten Kirche zum Druck befördert hat. Ein kurzes Vorwort orientiert zusammen mit einer vollständigen Bibliographie; Register (Bibelstellen, Namen antiker und moderner Autoren) geben Erschließungshilfen. Der Abdruck ist chronologisch geordnet; ich stelle nach Themen vor (Veröffentlichungsjahr in Klammern).
A. gewann mit »Justin und der mittlere Platonismus« (1952/53) Leser weit über die Patristik hinaus. Denn in die theologische Frage, mit welchen Mitteln der Apologet das Christentum durchdenkt, wird die geistesgeschichtliche Frage eingeschoben, wie er das Christentum in der Geisteswelt des 2. Jh.s positioniert. Justins platonische Anleihen verdichtete A. zur Platontradition, die in der Philosophiegeschichte als Mittelplatonismus identifizierbar sei. Justin habe aber seine »Usurpation« des Platonismus mit dem Schriftbeweis verbunden und daraus eine Geschichtstheologie entwickelt. So wurde Justin für den heidnischen Mittelplatoniker Kelsos zu einer Provokation, und dieser habe sich selber auf die geschichtsphilosophische Diskussion eingelassen, wie A. in seiner Monographie »Logos und Nomos« (1955) ausführte. Seine methodische Prämisse in der geistesgeschichtlichen Betrachtung des Verhältnisses vom Christentum zur Antike bezeichnete A. später als »Gesprächssituation«. Ein Vortrag in Oxford 1975 weitete den Blick auf den späten Neuplatonismus und Dionysius Areopagita aus (»The Interpretation of Platonism in Early Christian Theology«, 1984). Und ein Vortrag in Uppsala 1977: »Adaption, Usurpation und Integration der Antike in das spätantike Christentum« zog den heuristischen Ansatz von Gesprächssituationen problemgeschichtlich für Weichenstellungen in der weiteren Geschichte in Ost und West aus. Politische oder sozialgeschichtliche Ableitungstendenzen in der Theologiegeschichte unterläuft A. dadurch, dass er die Außenfaktoren in dem Bild vom Gesprächsklima einbezieht und auf diese Weise Raum für die geistesgeschichtliche Selbstbestimmung des Christentums freihält.
Die Schwierigkeiten, denen kirchliche und christliche Selbstgestaltung auf dem Gebiet von Brauchtum und Sitte begegnet ist, zeichnen die beiden Aufsätze »Bestattung als liturgisches Gestaltungsproblem in der Alten Kirche« (1960) und »Altchristliche Kritik am Tanz« (1961) nach. Nach meinem Urteil ist die Subtilität der Gedankenführung und die transparente Erhebung aus den Quellen nicht nur der religionssoziologischen Kategorie des Rituals überlegen, sondern die behutsame Urteilsbildung ist für gegenwärtige Diskurse über kirchliche Gestaltungsoptionen durchaus relevant.
Ein Vortrag in Aarhus 1972 (»Kirchengeschichtsschreibung – eine aktualisierte Selbstrechtfertigung«) verlebendigt die Einleitung zu dem großen Werk »Die Kirchen der alten Christenheit« (1971). In einem Aufsatz (»Zum Formular frühchristlicher Gemeindebriefe«, 1965) war ausschnittartig vorgeführt worden, wie zu einem der »Idealtypen« des kirchlichen Selbstverständnisses, das A.s Kirchengeschichte auszeichnet und gliedert, gelangt werden kann.
Zum Thema Dogmengeschichte gibt es drei Aufsätze. Nach An­deutungen in einer Sammelbesprechung (1959) demonstriert der Aufsatz »Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Personbegriffs« (1961) die Heraussetzung des Personbegriffs aus der Bibelexegese durch Tertullian. A. nennt diese Exegese »prosopographisch«; geeigneter wäre z. B. prosopopoietisch, insofern die philologisch-rhetorische Schultradition die genaue Achtsamkeit auf die im Text sprechende Person und auf das von dieser Person Gesagte gelehrt hatte. A. verfolgt die Weiterwirkung dieser grundlegenden Interpretationsmethode in der Ausbildung der Trinitätslehre und deckt eine mächtige Linie der Bibelverbundenheit auf. Allerdings sei sie im Osten durch den Gebrauch, den die des Sabellianismus beschuldigte Einhypostasentheologie davon machte, in Misskredit geraten. In einem nachdenklichen Aufsatz (»Dogmengeschicht­liche Aspekte zur religions- und geistesgeschichtlichen Ableitung des frühen Christentums«, 1985) legt A. den Finger auf die Aporie beider (Bousset und Harnack) Ableitungen. Denn in beiden Verstehenszugängen werde sowohl die Intention der kanonischen Bibel, »Anrede an den Menschen« zu sein, als auch die theologische Anstrengung, in der Schriftexegese verbindliche Wahrheit bejahen zu können, eliminiert. Die abschließenden Sätze lauten: »Schon immer war Theologie in Gestalt der Schriftexegese Entscheidung zum Dogma. Selbst dessen Erstform ›Herr ist Jesus Christus‹ (Phil 2,11b) ist aus der christologischen und d. h. aus der dogmatischen Exegese der Schrift hervorgegangen. Nur deren Anspruch, das Wort Gottes als Ruf zur theologischen Entscheidung zu vergegenwärtigen und für die christliche Gemeinschaft verbindlich zu machen, legitimiert die Dogmengeschichtsschreibung« (314). Übrigens gibt es noch zwei fragende Beiträge zu der Bedeutung, die die Bibel im Kirchenrecht hatte (1980 und 1982).
A.s Bemühungen um ein Verstehen Augustins sind bekannt. Die »Gedanken zum philosophischen Bildungshorizont Augustins vor und in Cassiciacum« (1968) sind weithin beachtet worden. In seinem »Gesprächsbeitrag« mit dem Untertitel: »Das Verhältnis von Wahrheit und Autorität« (1973) trägt er die Beobachtung vor, dass intellektuelles Verstehen der Wahrheit in seinsphilosophischem Erkennen sich von der kontingenten Einsicht in die Wahrheit bei der Schriftauslegung unterscheide und damit dem Autoritätsglauben einen neuen Sinn verleihe; das ist noch nachzubuchstabieren. Mit der letzten Vorlesung seines Augustinkollegs im Sommersemester 1977 verabschiedete sich A. von der Göttinger Theologischen Fakultät: »Augustin – das Geheimnis seiner Wirkung«. Aus dem lichtvollen Überblick zitiere ich seine Stellungnahme zur Begeisterung der Existenzphilosophie für Augustin, die – mit Karl Jaspers gesprochen – bekannte, »daß wir von einer Wahrheit ergriffen werden, die so, wie sie uns ergreift, nicht mehr die christliche Wahrheit Augustins ist«: »Die Fairness gegenüber [Augustins] Gesprächsbereitschaft verlangt aber auch die Haltung schwebender Offenheit, in der es immer offen und damit möglich bleibt, daß die mich ergreifende Wahrheit – wenn auch nicht Augustins – die christliche Wahrheit ist.« (224 f.)