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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

152–154

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Grelot, Pierre

Titel/Untertitel:

La tradition apostolique. Règle de foi et de vie pour l’Église.

Verlag:

Paris: Cerf 1995. 337 S. gr.8° = Théologies. Kart fFr 220.-. ISBN 2-204-05133-0.

Rezensent:

Christoph Markschies

Von Pierre Grelot, dem 1917 geborenen Aramaisten und biblischen Theologen des »Institut catholique« in Paris, ist in der ThLZ in den letzten Jahrzehnten eine ganze Handvoll Bücher angezeigt worden. In den verschiedensten Rubriken (von "Bibelwissenschaft" über "Kirchen- und Konfessionskunde" bis "Systematische Theologie") publiziert, zeigen diese Rezensionen die Weite der Forschungen und Interessen G.s ebenso wie seinen Standort im Spektrum eines konservativeren französischen Katholizismus: Neben rein alt- wie neutestamentlichen Arbeiten (z. B. ThLZ 107, 1982, 665 f. oder 106, 1981, 420 f.) finden sich auch immer wieder Beiträge zu aktuellen Problemen der Kirche seines Heimatlandes und zur kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Aufbruchsbewegungen der weltweiten katholischen Kirche, so zum Thema "Priesteramt der Frau" (ThLZ 120, 1995, 1002 f.), zu einer Debatte mit Edward Schillebeeckx über das Priesteramt (ThLZ 115, 1990, 447-449) oder zur Sexualethik (ThLZ 110, 1985, 26 f.). Die vorliegende Schrift wird nun freilich von einem Patristiker angezeigt, der weder als Bibelwissenschaftler noch als Experte für neueren französischen Katholizismus wie französicher Theologiegeschichte der letzten hundert Jahre ausgewiesen ist.

Mit dem Buch »La Tradition apostolique« kehrt der Autor zu einem alten wie durchgängigen Thema seiner Arbeiten zurück; es wirkt wie eine große abschließende Synthese (obwohl es zum Teil aus anderwärts bereits publizierten Aufsätzen besteht). Seit seinem Buch »La Bible, Parole de Dieu. Introduction théologique à l’Étude de l’Écriture Sainte« (Paris 1965, angezeigt von K. Weiß, ThLZ 92, 1967, 953 f.) unterscheidet G. »Tradition apostolique« als "der Stifterin von Glauben und Leben der Kirche Jesu Christi" und »tradition ecclésiastique«, die dieses Erbe aufgenommen hat, aber in verschiedenen Zeiten verschieden zur Geltung gebracht hat. Beide bilden gleichwohl eine organische Einheit (La Tradition apostolique, 55); ein schlechthinniger Abfall der Kirche ist nicht vorstellbar. Die apostolische Tradition ist der Schrift vorgängig, hat im Neuen Testament Gestalt angenommen, ist zugleich auch die Richtschnur der Interpretation des Alten (12 f.) und hat schließlich im Leben der Kirche praktische Gestalt gewonnen. G. sieht in dieser Konzeption einer vorgängigen traditio apostolica schon seit langem einen Schlüssel, um auch heute Glaubenstreue (fidélité) und Engagement in kirchlichen Gegenwartsfragen (créativité) in Einklang zu bringen; auch half sie für G. eine ihm theologisch nicht unproblematische vorkonziliare, letztlich auf Trient zurückgehende (Denzinger-Hünermann § 1501) Spaltung von "Schrift" und "Tradition" überwinden, so wie es die Konstitution Dei verbum (2,9: DH § 4212) des zweiten Vatikanums ebenfalls intendiere, auch wenn sie selbst die Unterscheidung zwischen zwei traditiones nicht trifft (9 f. 55 f.).

Daß diese reformkatholische Konzeption der frühen sechziger Jahre so nicht mehr in der seither erheblich komplexeren Diskussion über biblische Hermeneutik (man denke allein an die verschiedenen neueren Modelle für das Verständnis des "alten" bzw. "ersten Testamentes" bzw. der "hebräischen Bibel" innerhalb der christlichen Theologie) und Konstitutionsprinzipien systematisch-theologischer Aussagen bestehen kann, braucht hier nicht eigens dargestellt zu werden. Daß sie einst aber eine wichtige Funktion hatte, um die Ergebnisse historisch-kritischer Wissenschaft zur Pseudapostolizität neutestamentlicher Schriften theologisch zu bewältigen und einen Schritt auf die Kirchen der Reformation hin zu tun, sollte man bei aller Kritik nicht vergessen ­ G. weist auch noch einmal selbst darauf hin (14 f. 30-36). Und wenn das "Wort zum 450. Todesjahr Martin Luthers aus der evangelischen und katholischen Kirche in Thüringen und Sachsen-Anhalt" vom 2. 2. 1996 festhält: "Heute wissen wir deutlicher als Martin Luther in seiner Zeit, daß die Bibel selber das Ergebnis eines langen Überlieferungsvorganges ist. Deshalb zeigt sich uns das Verhältnis von Schrift und Überlieferung neu" (2), dann ist das ja von G.s Ansichten gar nicht so weit entfernt. (Eine ganz andere Frage ist, ob das entsprechende hermeneutische Defizit bei Luther tatsächlich vorliegt und folglich eine Revision seiner Verhältnisbestimmung von viva vox evangelii und kirchlicher Tradition im Protestantismus angezeigt ist).

In seinem neuen Buch analysiert G. zunächst den zweiten Petrusbrief, der für ihn an der Nahtstelle zwischen »tradition apostolique« und »tradition ecclésiastique« steht, von einem recht traditionellen Standpunkt her auf "apostolische Tradition" hin (21-56). Walter Rebell hat in einer Rezension geschrieben (ThLZ 120, 1995, 1003), G.s »tradition apostolique« sei mit dem "Frühkatholizismus" identisch, "der als normativ angesetzt wird". Wer den nämlichen Begriff "frühkatholisch" für glücklich hält, wird die Interpretation des 2Petr im vorliegenden Buch als Beleg dafür heranziehen. Es folgen Bemerkungen zur »Tradition apostolique« bei Irenaeus von Lyon (58-61), die allerdings hinter dem Problemhorizont der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zurückbleiben, wie man an der Interpretation der bekannten Passage haer. III 3,2 samt der dortigen Erwähnung der "von den beiden hochberühmten Aposteln Petrus und Paulus in Rom gegründeten und organisierten Kirche" sehen kann (59; Norbert Brox hat den status quaestionis jüngst in der Einleitung zum dritten Band seiner Irenaeus-Übersetzung festgehalten: FChr 8/3, Freiburg u. a. 1995, 8-11). Leider fehlen auch Überlegungen zum Verständnis der Begriffe apostolike paradosis/traditio apostolica bei anderen altkirchlichen Autoren.

An dieser Stelle steht ein genereller Überblick zum Thema »Tradition apostolique«: Entsprechendes neutestamentliches Vokabular wird genannt und die Weitergabe sowie Entfaltung der Tradition im heiligen Geist diskutiert (61-97). Die Fragestellung wird dann auf der Basis von biblischen Texten mit gegenwärtig aktuellen theologischen Themen in Beziehung gesetzt, die G. schon öfter behandelt hat und die daher auch in der ThLZ schon vorgestellt und kritisch gewürdigt worden sind (allgemeines Priestertum der Gläubigen: 102-115; christlicher Dienst in seiner priesterlichen Dimension: 117-137; Priesteramt der Frau: 139-161 [vermehrt um einen Abschnitt zur Priesterweihe bei den Anglikanern: 163-196] sowie das Herrenmahl: 197-230). Es ist daher nicht notwendig, hier erneut G.s Ansichten und die sachlichen Einwände bzw. energischen Widersprüche des Rez. zu entfalten. Ein großer Passus zum "Amt der Einheit in der Kirche" (231-298) schließt das Buch ab.

Das Buch hat schon in einer »Note additionelle« am Schluß eines jeden Kapitels ökumenische (häufiger muß man aber sagen: kontroverstheologische) Zielrichtung, beispielsweise bemüht G. sich bei seiner Behandlung der Opferterminologie (131-137), protestantische Einwände zu beachten. Für den Autor steht fest: »Mais il n’y a pas d’oecuménisme sain sans référence fondamentale à la ’tradition des Apôtres’« (160). Der zusammenfassende Schlußabschnitt des Buches ist daher auch überschrieben: »conclusion générale: La tradition apostolique dans le dialogue oecuménique« (301-328). Wenn aber die "apostolische Tradition" im gegenwärtigen ökumenischen Dialog eine solche zentrale Stelle einnehmen soll, dann muß der Patristiker fordern, daß erst einmal philologisch und historisch exakt analysiert wird, was wer zu welcher Zeit exakt darunter verstanden hat. Es müßte beispielsweise gezeigt werden, wie sich jeweils diese Vorstellung zu der eines kanon tes pisteos bzw. einer regula fidei verhielt und mit welchem, u. U. abgestuftem Grad von Normativität "Richtlinien für Glauben und Leben" als "Teil der apostolischen Tradition" galten. Was war communis opinio, was umstritten? Alle diese Überlegungen fehlen bei G., obwohl sie m. E. von großer Bedeutung für das Gespräch zwischen den getrennten Kirchen sind. Ich nenne lediglich ein Beispiel:

Im sogenannten "Lima-Papier" (Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt/M. u. Paderborn (9)1982) wird zwischen "apostolischer Tradition" und "Sukzession des Amtes" unterschieden (§ 34-36; 42f.). Diese Distinktion bedeutet zwar einen großen Fortschritt im Umgang katholischer Theologie mit reformatorischem Amtsverständnis (1), entspricht aber nicht ganz einem bestimmten altkirchlichen Verständnis, wie die orthodoxen Kirchen auch sofort eingewendet haben. Für Irenaeus von Lyon besteht die successio presbyterorum (haer. III 2,2 26,13-15 Brox) eben darin, daß sie die traditio, quae est ab apostolis im Unterschied zur diadoche der Philosophen bewahrt (Dort war personale Kontituität bei inhaltlicher Diskontinuität möglich).

Mir scheint aber, daß man sich trotz aller Einwände gegen G.s jüngste Monographie von ihr dazu anregen lassen sollte, exakter nach den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks "apostolische Tradition" zu fragen (die Definition im "Lima-Papier" § 34, p. 42 kann nicht das letzte Wort darstellen). Dann erst erhebt sich die Frage, wie mit diesen Ergebnissen theologisch umzugehen ist. Solche komplizierten kirchengeschichtlichen Untersuchungen leisten aber einen entscheidenden Beitrag zur Klärung protestantischer Identität und für den Fortschritt des ökumenischen Dialogs.

Fussnoten:

(1) Hier habe ich Dr. Laurentius Klein (Trier/Jerusalem) sehr herzlich für klärende Gespräche zu danken. Grelot bleibt bei der schlichten Identifikation (306 u. ö.).