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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1211-1212

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Docherty, Susan E.

Titel/Untertitel:

The Use of the Old Testament in Hebrews. A Case Study in Early Jewish Bible Interpretation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XI, 233 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 260. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149904-3.

Rezensent:

Martin Karrer

Der Hebräerbrief gehört noch in die Zeit vor der Trennung von Chris­tentum und Judentum (vor das »Parting of the Ways«, 1). Sein Autor zitiert Israels Schriften in großem Umfang. Er beachtet den Text seiner Vorlagen (was Docherty im Aufsatz The Text Form of the OT Citations in Hebrews Chapter 1 and the Implications for the Study of the Septuagint, NTS, 55, 2009, 355–365, unterstreicht, der mit Kapitel 4 der rezensierten Studie korrespondiert) und ist angeregt durch jüdische Exegese, besonders durch die Darlegungsweise des Midrasch, wie A. Goldberg und dessen Nachfolger sie erschlossen haben (vgl. A. Goldberg, Rabbinische Texte als Gegenstand der Auslegung, Tübingen 1999, und Beiträge von A. Samely; dazu Kapitel 3, 102–120). Das aber ist von hohem textgeschichtlichem und theologischem Interesse, denn wir gewinnen einen Zeugen für die im 1. Jh. umlaufenden Fassungen von Schriften der Septuaginta – der Hebr zitiert stets griechische, nicht hebräische oder aramäische Vorlagen. Und wir gewinnen ein Paradigma für den Einfluss jü­-discher Schrifterfassung im frühen Christentum. So lässt sich die These der vorliegenden Dissertation zusammenfassen, die bei Philip Alexander, einem vorzüglichen Kenner des vor- und frührab-binischen Judentums im hellenistischen Kontext und Beiträger zur Mi­drasch-Erschließung nach Goldberg, entstand (besonders 1–8.201–206).
D. baut den Argumentationsgang für ihre These stringent auf. Sie erörtert nach der Einleitung die Forschungsentwicklung von F. Delitzsch bis G. H. Guthrie (Kapitel 2, 9–82) und – wenn wir auf Kapitel 4 ausblicken – G. Steyn (122.134 u. ö.). Steyn schloss 2009 eine demnächst erscheinende (von D. noch nicht benutzbare) Studie über den Text der Zitate im Hebr ab, die D.s Vorschlag, in den Zitaten des Hebr jüdisch-griechische Textformen der Schriften Israels aus dem 1. Jh. zu erschließen, mit noch mehr Material untermauert. Das Kapitel 4 zur Textgeschichte der Zitate (121–142) könnte deshalb direkt anschließen. D. erkennt dort den Rang des bis vor Kurzem als spät angesehenen lukianischen Textes für den Hebr; namentlich die anstehende Neuedition der Psalmen in der Göttinger Septuaginta-Edition wird die Erstedition (A. Rahlfs) nicht unbeträchtlich korrigieren müssen (127–129.141 unter Würdigung von A. Pietersma und P. Flint). Die unveröffentlichte Dissertation Erko Ahlborns (»Die Septuaginta-Vorlage des Hebräerbriefes«, Diss., Georg-August-Universität Göttingen 1967), die D. entging, würde zeigen, dass die neuere textgeschichtliche Forschung in Europa schon vor längerer Zeit eingesetzt hat. Aber an der Grundlinie von D.s Beobachtungen erfordert das keine Korrektur. – Notiert sei freilich, dass D. die deutsche Hebr-Forschung – auch die Kommentarliteratur mit E. Gräßer u. a. – weniger als die englischsprachige beachtet.
Für die theologischen Folgerungen ist der zweite Argumentationsgang fast noch wichtiger (Kapitel 3; 83–120): A. Goldberg setzte im Studium des Midrasch einen wesentlichen Akzent dadurch, dass er das Augenmerk literarisch auf die Form mit Lemma, (er­weiterbarem) Diktum und (oft mühsam zu erschließender und vielfältig durchführbarer) exegetisch-hermeneutischer Operation lenkte (vgl. über D. hinaus den Überblick von M. Schlüter und P. Schäfer in A. Goldberg, Mystik und Theologie des rabbinischen Judentums, Tübingen 1997, VII–XXIII). Diese funktionale Form ist durch und durch schriftlich gestaltet (was Goldberg von der klas­-sischen Formgeschichte mit ihrer Suche nach mündlichen Sitzen im Leben abhebt) und nach D. ein wesentlicher Kontext für den Hebräerbrief. Dem kritischen Leser fällt auf, dass die Gegenprüfung an den Schriftrezeptionen und Auslegungsweisen vorrabbinischer jü­discher Quellen blass bleibt (Quellen aus Qumran und außerkanonische hellenistisch-jüdische Schriften erscheinen bei D. kaum; s. das Register, 221). Doch wieder beeinträchtigt das den Ansatz nur wenig. Gravierender ist schon, dass D. auch rabbinische Quellen wenig direkt bearbeitet, also die Studie vor allem von Se­kundärliteratur abhängig ist (vgl. zu den Rabbinica das Register, 225).
Kapitel 5 führt zur exemplarischen Anwendung auf Hebr 1,5–13 und 3–4. Die Organisation der Kapitel unterscheidet sich, was den Einfluss eines Testimoniums in Kapitel 1 verraten kann, dessen Vorgaben indes nicht zu hoch geschätzt werden dürfen (172–176). Das auffälligste Merkmal in Kapitel 1 ist jedenfalls das »removal« der zahlreichen Schrifttexte aus ihrem ursprünglichen Kontext in eine Umgebung neuer Ko-Texte (177). Segmentierung und Platzierung der Zitate sind durch die Einleitung 1,1–4 angebahnt, ohne dass die ursprünglichen Kontexte der Zitate ganz aus dem Blick gerieten, so dass sich ein hochkomplexes Gebilde ergibt. Der Redegestus von Gott an Jesus bleibt laut D. eine Variante jüdischer Exegese (180 f.). Die Kapitel 3 und 4 (181–198) konzentrieren sich anders auf nur zwei Schriftworte (Ps 94,7–11 und Gen 2,2), nehmen aber wiederum auch deren Kontext wahr und greifen von ihnen aus in die Weite. Das erlaubt den Anklang weiterer Schriftworte, die Argumentation mit Oppositionen (Sohn gegenüber Sklave/Diener) usw. Gemeinsam sind den Kapiteln 1 sowie 3 und 4 die genaue Berück­sichtigung der Vorlagen, der Vorzug für Ich-Zitate, die Überzeugung, Schrift sei »absolutely true« (196) und »coherent« (197) und u .a. die betonte Beanspruchung von einzelnen Elementen und Wörtern (»heavy stress« 198 u. ö.).
Alles in allem liegt eine solide, sehr anregende Studie vor. Sie besticht im Vergleich mit anderen, thematisch entfernt verwandten Ansätzen (vgl. z. B. G. Gelardini, »Verhärtet eure Herzen nicht«: Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa be-Aw, Leiden 2007). Trotzdem oder gerade deshalb wäre sie an den Zitaten des Hebr aus den Kapitel 5 bis 12 weiterzuführen und an alternativen Auslegungen gegenzuprüfen. Die Arbeit ist durch Register hilfreich er­schlossen.