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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1208-1210

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bornkamm, Günther

Titel/Untertitel:

Studien zum Matthäus-Evangelium. Hrsg. v. W. Zager.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2009. XIII, 421 S. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 125. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-7887-2365-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Günther Bornkamm (1905–1990) gehört zu den prägenden Gestalten unter den deutschen evangelischen Neutestamentlern der zweiten Hälfte des 20. Jh.s (vgl. die schöne Würdigung durch seinen Schüler Ferdinand Hahn in: C. Breytenbach/R. Hoppe [Hrsg.], Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945, Neukirchen-Vluyn 2008, 137–145). Als Bultmann-Schüler (Promotion 1930) und entschiedener Vertreter der Bekennenden Kirche selbst erst relativ spät ins akademische Lehramt gelangt (Habilitation 1934 bei Julius Schniewind, 1947 apl. Prof. in Göttingen, 1949–1971 Ordinarius in Heidelberg), wirkte er nicht nur durch eigene zentrale Publikationen (besonders die beiden in zahllosen Auflagen verbreiteten allgemeinverständlichen Darstellungen zu Jesus [Stuttgart 1956] und Paulus [Stuttgart 1969]), sondern auch durch seine Schüler, von denen nicht wenige die akademische Laufbahn einschlugen (u. a. Helmut Köster, Dieter Georgi, Egon Brandenburger, Dieter Lührmann, Gerhard Barth, Ulrich Wilckens), und trug so wesentlich zur exegetisch-kritischen, hermeneutisch reflektierten und theologisch-kirchlich orientierten Traditionslinie neutestamentlicher Wissenschaft in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg bei. In dem von Rudolf Bultmann und seinen Schülern bestimmten wissenschaftlichen Kontext liegt der spezifische Beitrag B.s zur Forschungsgeschichte in der Begründung der redaktionsgeschichtlichen Methode, die er vor allem am Matthäusevangelium entwickelte und durchführte. Der gemeinsam mit seinen Schülern Gerhard Barth und Heinz- (nicht Hans, wie permanent in dem zu besprechenden Buch!) Joachim Held publizierte Band Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (Neukirchen-Vluyn 1960) wurde für das Matthäusevangelium zu einem ähnlich signifikanten Forschungseinschnitt wie Die Mitte der Zeit von Hans Conzelmann (Tübingen 1954) für Lukas oder Der Evangelist Markus von Willi Marxsen (Göttingen 1956) für Markus.
Auf diesem Hintergrund ist es außerordentlich zu begrüßen und dem Herausgeber Werner Zager, selbst habilitierter Neutestamentler und tätig in der Erwachsenenbildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, sehr zu danken, dass in dem vorliegenden Buch nicht nur die bereits publizierten Studien von B. (offenbar unverändert) gesammelt vorgelegt werden (neben seinen drei Studien aus dem o. g. Sammelband [Enderwartung und Kirche im Matthäus-Evangelium, Die Sturmstillung im Matthäus-Evangelium, Der Auferstandene und der Irdische] noch vier weitere aus den Jahren 1954 [Matthäus als Interpret der Herrenworte; Die Gegenwartsbedeutung der Bergpredigt], 1971 [Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus] und 1978 [Der Aufbau der Bergpredigt]), sondern darüber hinaus auch umfangreiche Auslegungen (insgesamt mehr als zwei Drittel des vorliegenden Bandes) zu weiteren Teilen des Matthäusevangeliums, die B. in Vorbereitung seines Kommentars in der Reihe »Handbuch zum Neuen Testament« (HNT) erarbeitet hat. Dabei handelt es sich um die folgenden Textpartien: Mt 1–4; 5,17–20 und 15,1–20; 6,7–15; 8,1–11,1; 13,1–52; 14,22–33; 16,13–20). Nimmt man die publizierten Aufsätze und diese bisher unpublizierten Ausarbeitungen zusammen, so liegen für rund die Hälfte des Textumfangs des Matthäusevangeliums Auslegungen aus der Feder B.s vor.
Natürlich kann man aus dem Nachlass zusammengestellte Texte nicht ohne Weiteres mit von B. selbst für den Druck fertiggestellten (und zum Teil mehrfach nachgedruckten) Aufsätzen auf eine Stufe stellen, und die Behandlung exegetischer Einzelfragen ist auch nicht in allen ausgelegten Textpassagen gleich ausführlich. Allerdings sind die Darlegungen durchweg sorgfältig strukturiert und ausformuliert und führen immer auf ein Gesamtverständnis der betreffenden Textabschnitte im Rahmen des Matthäusevangeliums. Insofern handelt es sich nicht etwa um Skizzen für einen Kommentar, sondern eher um Fragmente.
Freilich lässt sich das spezifische Format des HNT nur relativ we­nig in B.s Auslegungen wiedererkennen. Im Blickpunkt stehen weniger Philologie, Textkritik oder Religionsgeschichte, sondern vielmehr die Theologie des Evangelisten, die freilich, ganz im Sinne der redaktionsgeschichtlichen Methode, nur auf der Basis eines sorgfältigen synoptischen Vergleichs und in Abgrenzung von den je charakteristischen Akzenten seiner Quellen bzw. traditionsgeschichtlichen Vorgaben erschlossen werden kann. Folglich setzt die Auslegung meist mit Beobachtungen zur Markus-Vorlage oder zur Gestalt der Perikope in Q ein und fragt dann nach spezifisch matthäischen Akzenten. Aus beidem ergibt sich der theologische Sinn der Abschnitte, auf den die Auslegung jeweils hinführen soll. Dieses Vorgehen folgt – wie nicht anders zu erwarten – ganz den me­thodischen Wegen, die B. selbst in seinen publizierten Studien maßgeblich gebahnt hatte. Der Evangelist erscheint hier als ein bewusst und eigenständig gestaltender, zugleich aber auch seinen Quellen und Vorlagen eng verbunden bleibender Interpret der Jesus-Christus-Geschichte. Und auch die theologischen Leitlinien der Auslegung lassen sich weitgehend schon in den großen Studien »Enderwartung und Kirche« und »Der Auferstandene und der Irdische« erkennen. Man kann hier somit wenigstens in Umrissen erkennen, zu welchen Ergebnissen die redaktionsgeschichtliche Evangelienexegese hätte führen können, wenn sie in die Form eines abgeschlossenen Kommentars gegossen worden wäre. Übrigens: Keiner der oben erwähnten »Väter der Redaktionsgeschichte« (mit Blick auf Matthäus gehören dazu auch noch Wolfgang Trilling oder Georg Strecker) hat einen Evangelienkommentar vollendet!
Relativ geringes Gewicht kommt demgegenüber Fragen der literarischen Gesamtgestalt des Evangeliums und seiner literaturgeschichtlichen Einordnung, dem Aufbau und der sprachlichen Ge­staltung der einzelnen Abschnitte, der Stilistik und der Textpragmatik zu. Das mag zum Teil mit der Unabgeschlossenheit der Auslegung zusammenhängen, dürfte aber wohl auch gewisse Wei­terentwicklungen und Umorientierungen der neutestamentlichen Forschung »nach Bornkamm« sichtbar machen. Insofern haben seine Auslegungen aus heutiger Sicht doch überwiegend forschungsgeschichtliche Bedeutung.
Auf diesem Hintergrund ist es freilich umso bedauerlicher, dass der Herausgeber in seinem Vorwort (V–VI) und in der »Einführung« (IX–XIII) nur relativ wenige Informationen zum Zu­stand der Textvorlage, zu den Editionsgrundsätzen und den Zu­sam­men­hän­gen der Textentstehung gibt. Die Einführung be­schäftigt sich vorwiegend mit den bereits publizierten Aufsätzen und ihrer forschungsgeschichtlichen Einordnung. Wenige Bemerkungen beziehen sich auf B.s Vorlesungen zu Matthäus in den 30er und 40er Jahren und auf die persönlichen Lebensumstände bis zur Übernahme des Heidelberger Lehrstuhls. Ob jedoch und in welchem Umfang Ausarbeitungen aus dieser Zeit in die hier vorliegende Publikation eingegangen sind und aus welcher Zeit möglicherweise andere Passagen der Auslegung stammen, erfährt man nicht. Nach den Angaben der verwendeten Literatur zu urteilen dürfte der größte Teil der Auslegungen in den 50er bis 70er Jahren entstanden sein, aber dann macht es umso mehr stutzig, wenn in den Fußnoten einzelne Titel bis hin zum Jahr 1987 (172), bei Nachauflagen sogar bis 1990, dem Todesjahr B.s, nachgewiesen werden (182). Soll man wirklich annehmen, diese Angaben stammen aus B.s Feder? Wenn aber nicht, woher dann?
Dass es sich bei solchen Fragen nicht um Quisquilien handeln muss, wird an einem terminologischen Problem sichtbar, für das neutestamentliche Wissenschaft heute sehr viel sensibler ist als zu B.s Zeiten. So fällt in der Auslegung zu Mt 5,17–20 mehrfach der Ausdruck »späteres Judentum« (o. ä.) auf (z. B. 198.205.210, vgl. auch 232), wenn von (nach heute üblicher Terminologie) frühjüdischen Quellen die Rede ist. Zu B.s Zeiten sprach man aber in der Regel von »Spätjudentum«/»spätjüdisch« (so auch hier z. B. 231.235.260 u. ö.), nicht von »späterem Judentum«. Angesichts dessen, dass B. einerseits angesichts seines persönlichen Lebensweges denkbar unverdächtig für antijüdische oder gar antisemitische Einstellungen war, andererseits aber zugleich auch seine Publikationen nach 1945 keineswegs frei sind von pauschalen und stereotypen Negativurteilen zu jüdischen Gruppen und Einstellungen zur Zeit Jesu, wie sie in neutestamentlichen Publikation der 50er Jahre eben gang und gäbe waren (vgl. im vorliegenden Band etwa in der Studie zur Gegenwartsbedeutung der Bergpredigt 66–69), hätte man schon gern genauer gewusst, ob die eben benannte auffällige Terminologie auf B. selbst zurückgeht – und wenn ja, zu welcher Zeit – oder auf jemand anderen.