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Ausgabe:

November/2010

Spalte:

1206-1208

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Börstinghaus, Jens

Titel/Untertitel:

Sturmfahrt und Schiffbruch. Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1–28,6.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVIII, 554 S. m. Abb. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 274. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-149996-8.

Rezensent:

Catherine Hezser

Das Thema der Reise und Mobilität ist in letzter Zeit von Althistorikern wiederholt aufgegriffen und in seinen verschiedenen Aspekten behandelt worden. Dabei ist besonders die zunehmende Mobilität breiterer Bevölkerungsschichten in der römischen Kaiserzeit betont worden. Es ist erfreulich, dass Untersuchungen zu diesem Thema nun auch auf das Neue Testament und frühe Christentum ausgeweitet werden. Das vorliegende Buch, welches die literarische Darstellung eines bestimmten Aspektes der antiken Reiseerfahrung untersucht, basiert auf einer Dissertation, die an der Universität Erlangen im Fachbereich Theologie eingereicht und von Peter Pilhofer betreut wurde. In der Dissertation wird der lukanische Topos von Seefahrt und der Schiffbruch des Paulus im Rahmen der vielfältigen antiken Seefahrts- und Schiffbruch-Erzählungen in griechisch-römischen, jüdischen und frühchristlichen Texten un­tersucht. Dabei werden sowohl die jeweils verwendeten Motive als auch der weitere literarische Kontext, in den die Erzählungen eingegliedert sind, untersucht, um die Funktion des Seefahrts- und Schiffbruchs-Topos festzustellen: Inwiefern werden derartige Erzählungen in historiographischen Kontexten anders erzählt als in Romanen? Was ist das Besondere der Erzählung in Apg 27 f. und was trägt die Darstellung des Schiffbruchs zum Paulusbild der Apostelgeschichte bei?
Die Studie ist in zwei Teile gegliedert. Während der erste Teil (»Vergleichende Untersuchungen«) Texte der römischen Kaiserzeit, die Seefahrt und Schiffbruch thematisieren, vorstellt, untersucht der zweite Teil (»Apostelgeschichte 27,1–28,6«) die lukanische Schiffbrucherzählung im Hinblick auf verwendete Quellen, Fahrtroute, Motivik, Genre und auf das in ihr zum Ausdruck gebrachte Paulusbild. Die einzelnen Abschnitte der Erzählung werden in ausführlichen Einzelanalysen untersucht und die Ergebnisse am Ende zusammenfassend dargestellt.
Die vergleichenden Untersuchungen des ersten Teils zeigen, dass die Seefahrt-Thematik in verschiedenen antiken Literaturgattungen aufgegriffen worden ist. So finden sich derartige Erzählungen in der Periplus-Literatur und -Historiographie, in biographischen Darstellungen wie z. B. Josephus’ Vita, in antiken Liebesromanen, in satirischen Darstellungen sowie im Alten und Neuen Tes­tament und der jüdischen und frühchristlichen Literatur. Außer der Hebräischen Bibel und Josephus werden unter der Rubrik »jüdische Literatur« allerdings nur die Testamente der Zwölf Patriarchen behandelt, nicht aber die rabbinische Literatur, in der Seefahrt- und Schiffbrucherzählungen auch gelegentlich vorkommen. Der Vf. hat die rabbinischen Texte ausgeschlossen, weil sie s.E. für die »Erhellung der lukanischen Schriftstellerei nur be­grenzte Bedeutung« haben (183). Obwohl die rabbinischen Texte zeitlich wohl erst nach der Apostelgeschichte ediert worden sind, enthalten sie frühere Traditionen, die in einem ähnlichen, von der Seefahrt auf dem Mittelmeer bestimmten Milieu entstanden und tradiert worden sind. Insofern wäre ein Vergleich der rabbinischen Texte mit den griechisch-römischen und neutestamentlich-pa­tris­tischen durchaus begrüßenswert gewesen, da sowohl die christ­lichen Autoren als auch die Rabbinen gängige griechisch-römische Motive rezipierten. Allerdings würde ein solcher Vergleich Fachkenntnisse der rabbinischen Literatur voraussetzen und den Rahmen des Buches überschreiten, wie der Vf. richtig notiert.
Da die Apostelgeschichte gemeinhin der antiken Historiographie zugerechnet wird, sind historiographische Schiffbrucherzählungen von besonderem Interesse. Bei den antiken Historikern ist dabei gewöhnlich von Kriegsschiffen die Rede, und der Schwerpunkt liegt auf dem militärischen Verlust. In Biographien, wie etwa Josephus’ Vita, ist dagegen die Erfahrung einer bestimmten einzelnen Persönlichkeit relevant. Oft wird das Wunderbare der Rettung betont und bei Josephus (wie ja auch in der Apostelgeschichte) auf Gott zurück­geführt, während die römischen Autoren die Anrufung der paganen Götter bzw. die Tyche des Herrschers erwähnen, von denen man sich die Besänftigung des Seesturms versprach. Besonders detailliert sind die Schiffbrucherzählungen der antiken Romane, die zahlreiche motivische Parallelen zur Sturmerzählung der Apostelgeschichte aufweisen. Allerdings ist »eine Differenz zwischen der Zeichnung der Romanhelden und der des Paulus zu konstatieren« (117). Während die Romanhelden ihrem Schicksal ausgeliefert sind, nimmt Paulus sein Schicksal in die eigene Hand: »Er agiert damit gleichsam zwischen einem Romanhelden und einem echten epischen Helden« (118). Allerdings wird seine Rettung letztendlich auf Gott zurückgeführt, wie auch in den antiken jüdischen Seesturmerzählungen im Jonabuch, in Ps 107, und in den Testamenten der Zwölf Patriarchen. Diese Richtung wird in der frühchristlichen Tradition fortgesetzt, be­sonders in den Pseudo-Klementinen (Anfang des 4. Jh.s) und bei Synesius von Kyrene (4. bis Anfang des 5. Jh.s). In diesem Zusammenhang wäre die spätantike jüdische Rezeption der Motivik in der rabbinischen Literatur interessant gewesen.
Im zweiten Teil des Buches wird die Schiffbrucherzählung der Apostelgeschichte genauer untersucht. Dabei geht es zunächst um die Quellenfrage: Lagen dem Autor der Apostelgeschichte be­stimm­te literarische Quellen vor, die er bearbeitet hat? Die Frage der sog. Wir-Stücke wird hier ausführlich behandelt, um anschließend kurz literar- und formgeschichtliche Untersuchungen zu Apg 27 vorzustellen. Der Vf. glaubt, dass bestimmte »Eckdaten« der Sturmerzählung »historisch verlässlich« sind (345). Sie sind aufgrund von Sachkenntnissen zur antiken Seefahrt literarisch ausgestaltet worden. In den folgenden Analysen der einzelnen Erzählteile werden Bezüge zu den im vorangehenden Teil untersuchten griechisch-römischen und alttestamentlichen Seefahrterzählungen hergestellt.
Auf die antike Seefahrt an sich wird nur im Kapitel zur Fahrtroute des Paulus eingegangen. Der Vf. betont, dass die Frage der Historizität der Erzählung nicht im Zentrum seines Interesses steht und deshalb nicht weiter behandelt wird. Allerdings ist die Reiseroute des Paulus in der Forschung ausführlich diskutiert worden und muss deshalb hier erwähnt werden, unabhängig davon, ob es sich bei dem Text der Apostelgeschichte um eine historiographische oder literarische Darstellung handelt.
Die Ergebnisse der Untersuchung werden am Ende kurz zusam­mengefasst. Das Vorkommen der Seefahrtsmotivik in der antiken Literatur ist nicht genrespezifisch; vielmehr ist dieser Themenbereich in den unterschiedlichsten Gattungen anzutreffen. Innerhalb der jeweiligen Gattungen werden die Motive aber genrespezifisch verwendet, um die jeweiligen Aussageabsichten der Autoren zum Ausdruck zu bringen: das Ausgeliefertsein des Menschen an die Naturgewalten, seine Bewährung in Gefahrsituationen, die Errettung durch Gott bzw. die Götter. Lukas hat Teile dieses beliebten Motivkomplexes aufgenommen, um zu zeigen, dass Paulus die Gefahren auf See überstanden hat, bevor er »das ihm von Gottes Seite gesetzte Ziel erreichen konnte« (448). Anders als die antiken Romanhelden, die ihrem Schicksal gewöhnlich ausgeliefert sind, greift Paulus selbst in das Geschehen ein, indem er praktische Ratschläge gibt. So erscheint Paulus hier als »der implizite Retter der Reisegesellschaft«, als »Beauftragter Gottes«, der letztendlich sein Ziel erreicht (449).
Diese sehr gründliche und überzeugende Untersuchung ist mit einem Stellen-, Orts-, Sach- und Namenregister versehen. Sie ist allen Neutestamentlern, Kirchengeschichtlern, Judaisten und His­torikern mit dem Schwerpunkt auf der Antike sehr zu empfehlen.