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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1181-1182

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Reuter, Astrid, u. Hans G. Kippenberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionskonflikte im Verfassungsstaat.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 428 S. 8°. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-525-54008-4.

Rezensent:

Christian Polke

Der hier anzuzeigende, von Hans Georg Kippenberg und Astrid Reuter herausgegebene Sammelband Religionskonflikte im Verfassungsstaat geht auf eine Tagung zurück, die im Februar 2008 am Max-Weber-Kolleg in Erfurt stattfand. Er versteht sich selbst als ein Teil der »Kommunikation über Religion«, von der die Herausgeber in ihrer Einleitung schreiben, dass sie in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit zugenommen habe (11). Dieses »Comeback« der Religion geht allerdings keineswegs konfliktlos vonstatten, und genau daran knüpfen die vielfältigen Beiträge in diesem Band an.
Im ersten Teil nähern sich die Autoren aus einer verstärkt rechtshistorischen und -soziologischen Perspektive dem Thema. Neben instruktiven Darlegungen über die Modelle des Staat-Kirche-Verhältnisses (vgl. 119–143) sowie der Institution einer Körperschaft Öffentlichen Rechts (vgl. 93–118) aus der Feder führender Rechtswissenschaftler wie Winfried Brugger und Hans Michael Heinig informiert uns Fabian Wittrock über die Debatten um Religionsfreiheit in der Weimarer Verfassungsversammlung und im Parlamentarischen Rat (66–92). Schon zu Beginn des Buches finden sich darüber hinaus die spannenden Ausführungen des britischen Historikers Christopher Clark zu den verschlungenen Pfaden von Säkularisierung und Konfessionalisierung, wie er sie für das 19. und 20. Jh. anhand des Katholizismus aufzeigt (vgl. 23–65). Beide Prozesse beförderten sich gegenseitig (vgl. 52). Die Konflikte, die säkulare Zeitgenossen unterschiedlichster Provenienz mit dem Katholizismus hatten, trugen maßgeblich dazu bei, dass dieser sich zu einer gestaltenden politischen Kraft innerhalb der europäischen Moderne entwickeln konnte (vgl. 59 f.) – eine Behauptung, die lange Zeit unter dem Diktat der Weberschen Meistererzählung von der protestantischen Moderne als geradezu absurd hingestellt wurde.
Der Bedeutung von Konflikten in Integrationsprozessen gehen die beiden letzten Beiträge des ersten Teils nach. Matthias Koenig untersucht unter dem Titel »Gerichte als Arenen religiöser Anerkennungsprozesse« (vgl. 144–164) die Dynamiken, die bei der Konfliktregelung vor Gericht und im Vorfeld stattfinden. Unter Miteinbeziehung der amerikanischen »socio-legal studies« geht der Beitrag luzide dieser Entwicklung in den Bereichen von Rechtszugang, -findung wie -wirkung nach. Binnenrechtliche wie außerrechtliche Faktoren sind dabei zu berücksichtigen. Somit zeigt Koenig ein noch viel zu wenig untersuchtes Forschungsfeld auf, in dem auch seine These erhärtet werden kann, wonach mit der »Entmonopolisierung« des religiösen Feldes und der gerichtlichen Austragung von religiösen Konflikten zugleich dem Staat eine verstärkte Regelungskompetenz, etwa hinsichtlich von Ausnahmeforderungen zukommt (vgl. 162). Volkhard Krech wiederum über­legt ausgehend von Simmels Konfliktsoziologie, inwiefern Konflikte und Kontroversen zu einer religiösen Vergesellschaftung beitragen und durch einen (wie auch immer gearteten) Zwang zur Organisierung zu­gleich rationalisierende wie modernisierende Wirkungen zeitigen (vgl. 165–178).
Den zweiten Teil eröffnet David Nirenberg mit Überlegungen zur europäischen Dialektik von Glaube und Vernunft. Dabei zielt er vor allem auf das darin implizierte Bild von Judentum und Islam. Als Ausgangspunkt dient ihm dazu jene Verteidigung der alteuropäischen Synthese, wie sie sich in der Geschichtstheologie Benedikts XVI. artikuliert (vgl. 191–207). Danach folgen, dem mehr gegenwartsdiagnostischen Duktus der zweiten Hälfte entsprechend, Analysen zu Inklusions- und Exklusionseffekten, wie sie sich im Umfeld der Debatten um den Gottesbezug in einer EU-Verfassung und der europäischen Wertedebatte darstellen (so durch Nikola Tietze, 208–229). Hannes Langbein untersucht in seinem aufschlussreichen Beitrag (vgl. 290–312) die (mediale) Inszenierung eines (vermeintlichen) Kampfes der Kulturen im Umfeld von Karikaturenstreit und Idomeneo-Aufführung. Weitere Aufsätze widmen sich dem Problem der Tierschlachtung (durch Shai Lavi, vgl. 393–416), dem Kopftuch-Verbot (vgl. die Abhandlung von Michael Wrase, 360–392) sowie der Körperschaftsverleihung an die Zeugen Jehovas (vgl. den Beitrag von Steffen Rink, 337–359). Einen besonderen Seitenblick auf Polen liefert uns Hella Dietz, welche die Kontroversen um Radio Maryja dazu benutzt, Grundsätzliches zur Transformation des Katholizismus (vom »Klerikalismus von ›oben‹ zum Klerikalismus von ›unten‹«) in unserem Nachbarland zu erörtern (vgl. 313–336). Auch die beiden Herausgeber sind in dem Band mit jeweils einem eigenen Artikel vertreten. So unterzieht Astrid Reuter (vgl. 230–258) die Berliner Auseinandersetzung um den Religionsunterricht zunächst einem historischen Vergleich mit den Konflikten um die staatliche Werteerziehung, wie sie sich in der Religionsgeschichte Frankreichs seit dem 19. Jh. ergaben. Nicht nur, dass sie heute Tendenzen in beiden Ländern zu religionspolitischen Annäherungen sieht; auch markiert sie treffsicher das prinzipielle Problem der gegenwärtigen Berliner Lösung. Einmal ganz unabhängig von der Frage »Pro Reli« wird dort nämlich aus einer Orientierung an den Grund»rechten(!)« der Verfassung eine einseitige Identifizierung von Grund»werten(!)«, die es möglichst abgelöst von religiösen und weltanschaulichen Herkunftskulturen zu propagieren gilt (vgl. 254 ff.). Hans G. Kippenberg schließlich zeigt ausgehend von den Kontroversen um Salman Rushdies Satanische Verse, dass selbst westliche Gesellschaften den Blasphemietatbestand nicht restlos (etwa aufgrund der Meinungsfreiheit) aus ihren Rechtsordnungen eliminiert haben (vgl. 258–289). Vielmehr wird er, wie in Großbritannien, einerseits den Bedürfnissen einer multikulturellen Gesellschaft angepasst und andererseits in säkulare Formen übersetzt. Strafbar sind nicht mehr Gotteslästerung oder die Beleidigung religiöser Gefühle an sich; wohl aber Anstachelung zum Religionshass und, z. B. in Deutschland, auch die Beschimpfung von Religionsgemeinschaften.
Die hier nur verkürzt vorgetragene Vorstellung einzelner Beiträge eines solchen Bandes kann das Lesen naturgemäß nicht ersetzen. Aber entgegen dem nicht selten vorliegenden Fall, wonach Tagungsbände oftmals ohnehin nur zur erneuten Lektüre durch die Referenten gedacht sind, zeigt dieses Buch einmal mehr, wie fruchtbar Tagungen für eine breitere Öffentlichkeit dann sein können, wenn sie nur gut organisiert und inhaltlich strukturiert sind. In solchen Fällen lohnt sich auch eine Veröffentlichung, die hiermit vorliegt und zu deren Lektüre der Rezensent herzlich einladen darf.