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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1173-1175

Kategorie:

Kirchenrecht

Titel/Untertitel:

Erosion von Verfassungsvoraussetzungen. M. Beiträgen v. U. Sacksofsky, Ch. Möllers, U. Davy, P. Axer, W. Kluth, S. Baer, B. Holznagel, H.-D. Horn. Berichte u. Diskussionen auf d. Tagung d. Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Erlangen vom 1. bis 4. Oktober 2008. Red.: Ch. Engel.

Verlag:

Berlin: de Gruyter Recht 2009. 605 S. 8° = Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 68. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-89949-535-5.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Im Zuge des soziokulturellen Wandels, der sich derzeit in der Bundesrepublik Deutschland ereignet, ist das Vertrauen in die Verlässlichkeit staatlicher Rechtspolitik, in die Rechtssicherheit, ja sogar in den Rechts- und Sozialstaat als Ganzen brüchig geworden. Die Rechtsordnung selbst und ihre Grundlagen, die »Verfassungsvoraussetzungen« (51.128.187), sind zurzeit von Erosion bedroht. Dies erweist sich dem vorliegenden Band zufolge an vier Sachverhalten: Erörtert werden 1. neu entstandene Probleme der Religionsfreiheit und des Religionsrechts angesichts von weltanschaulich-religiöser Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung (7–121), 2. soziale Ungleichheiten, die z. B. darin zutage treten, dass in sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen verschlechterte Gesundheits- oder Bildungsstandards anzutreffen sind (122–245), 3. ungelöste Fragen der Generationengerechtigkeit, die durch den demographischen Wandel verschärft werden (246–380), sowie 4. die Fragmentierung der demokratischen Öffentlichkeit. Sie resultiert aus veränderten Kommunikationsstrukturen und aus Kommerzialisierungen der Medienlandschaft (381–477).
Zu den vier Themenblöcken wurden auf der Staatsrechtslehrertagung acht Referate vorgetragen, die im Schwerpunkt juristisch angelegt sind. Der Tagungsband dokumentiert ferner die Diskussionsbeiträge, die die Referate kommentierten. An dem Band zeigt sich, wie sehr sich sozialethische und juristische Einschätzungen in den letzten Jahren verschoben haben. Bislang hatten Theologen, Kirchenvertreter, Politiker und Juristen oft die These vertreten, die Orientierungs- und Steuerungskrise, in die Staat und Gesellschaft geraten sind, lasse sich durch eine erneute Rückbindung an die (christliche) Religion oder an kirchlich gelehrte Werte auffangen. In diesem Sinn wurde auch immer wieder der Satz des katholischen Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde rezipiert, dem zufolge der säkularisierte freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Böckenfördes Diktum kehrt in dem vorliegenden Band wieder. Es fällt freilich auf, dass das Diktum keineswegs mehr so zustimmend oder so vorbehaltlos zitiert wird wie früher. Stattdessen wird der Einwand erhoben, auf seiner Basis könnten in verdeckter Form normativ-kollektivistische, z. B. nationale, ethnische oder religiös-essentielle Ideen transportiert werden ( S. Baer, 300 ff.; vgl. 475). Es sei das Gebot der Stunde, Böckenfördes Formulierung umzukehren (F. Hufen, 114). Statt sich auf externe, z. B. religiöse Legitimationsquellen zu stützen, solle der Staat seinerseits aktiv werden und selbst für die Stabilität seiner Grundlagen Sorge tragen, was sich u. a. durch Bemühungen um Bildung, Kultur und Erziehungsziele realisieren lasse (P. Häberle, 96).
Dieser Kritik an Böckenförde ist aus der Sicht des Rezensenten zuzustimmen. Zu bedauern ist, dass im vorliegenden Band die Verantwortung des Staates für die gesellschaftliche Kohäsion und für die Geltung oder Durchsetzung von Verfassungsvoraussetzungen nicht in systematisch geschlossener Form, sondern nur punktuell erörtert wird. Zum Beispiel werden staatliche Initiativen gefordert, die dem Funktionieren einer demokratischen Kultur der Informationsvermittlung und Mediennutzung zugute kommen ( B. Holznagel, 406; vgl. 476). Aus Artikel 1 des Grundgesetzes (Menschenwürde) wird die Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines Existenzminimums abgeleitet (U. Davy, 140 ff.). Der Staat sei ver­antwortlich, sozioökonomische Basisbedingungen abzusichern, die es den Bürgern ermöglichen, ihre Selbstbestimmungsgrundrechte und ihre persönlichen Lebens-Chancen realisieren zu können (P. Axer, 186 f.191 f.217). Insgesamt bleibt es in dem Tagungsband aber oft im Vagen, welche Folgerungen aus heutigen sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Umbrüchen für das Staatsverständnis und die Rechtspolitik zu ziehen sind. Der Band belässt es weitgehend bei Krisendiagnosen und -analysen.
In bestimmter Hinsicht setzt er freilich einen markanten Akzent. Er behandelt auch Kirchen, Religionen und das Religionsrecht unter dem Vorzeichen von Erosion und Krise (hierzu Ute Sack­sofsky, 7–46, und Christoph Möllers, 47–93). Der religionsbezogene Themenblock steht unter der Überschrift »Religiöse Freiheit als Gefahr?«. Hiermit verdeutlichen die Staatsrechtslehrer, dass sich die kulturelle und verfassungsrechtliche Bewertung von Religion in den letzten Jahren gravierend verändert hat. U. Sacksofsky arbeitet prägnant heraus, dass dem Böckenförde-Diktum noch ein einseitig positives, staatstragendes Bild von Religion zugrunde lag, in dessen Logik nicht die Religion selbst, sondern ihre Abwesenheit für den Staat »gefährlich« sei (8). Im Gegensatz hierzu sei heutzutage aber zu konstatieren, dass Religionen für den Staat ein dreifaches Gefahrenpotential enthalten: 1. den Fundamentalismus, der sich quer durch Kirchen, Konfessionen und Religionen ziehe, 2. einen teilweise bedenklichen religiösen Pluralismus, der u. a. an islamischen Strömungen ablesbar werde, 3. Unterdrückung und Gewalt, die von Religionen ausgehen können (30 ff.). Insofern ist »Religion« nicht länger als Faktor interpretierbar, der per se zur gesellschaftlichen Kohäsion beiträgt. Konfessionen und Religionen sind vielmehr zum Anlass und zum Symbol für gesellschaftliche Differenzen, Konflikte und Kontroversen geworden. Chr. Möllers zieht die Konsequenz, der Staat dürfe von den Religionen keine gesellschaftliche Nützlichkeit erwarten. Stattdessen habe der Staat auf die öffentliche Sichtbarkeit der Religionen zu achten, damit – neben dem sinnstiftenden Potential der Religionen – auch religiös be­dingte Freiheitsgefährdungen offen zutage treten und ihnen öf­fentlich gewehrt werden kann (69.87.118).
Die beiden Referate listen viele religionsrechtliche Punkte auf, die ethischer, theologischer und rechtswissenschaftlicher Durchdringung bedürfen – angefangen mit der alten Streitfrage der Kruzifixe in Klassenzimmern oder Gerichten bis zur neuen Problematik von Scharia-Gerichten, die jenseits der staatlichen Gerichtsbarkeit agieren. Hiervor wird ganz zu Recht gewarnt (39 f.). Nähme man eine solche Nebenjustiz hin, liefe dies darauf hinaus, dass Religionen zum Staat im Staate würden. Weitere Problempunkte könnten im Übrigen noch ergänzt werden, etwa die Frage, ob der Staat des Grundgesetzes hinreichend dafür sorgt, dass im Binnenbereich von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Grundrechte oder Arbeitnehmerrechte stets respektiert werden. Wenn man solche Problemstellungen ernst nimmt, greift es zu kurz, einfach nur zu sagen, das Staatskirchenrecht habe sich »be­währt« (M. Heinig, 102). Ebenso wenig überzeugt es, die rechtlich-ethische Kritik an religiösem Fundamentalismus mit dem Tu quoque-Argument zu relativieren, es gebe doch auch einen »liberalen Fundamentalismus« (J. Isensee, 97). Insgesamt rückt der Ta­gungsband heutige Tendenzen der Erosion des Rechtsstaates unter Einschluss des Staatskirchen- und Religionsrechtes gut ins Licht. Er hat hierzu keinen Schlusspunkt, sondern einen Doppelpunkt ge­setzt, hinter dem die argumentative Auseinandersetzung mit diesen Themen intensiviert fortgesetzt werden sollte.