Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1172-1173

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Werbick, Jürgen

Titel/Untertitel:

Grundfragen der Ekklesiologie.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2009. 261 S. 8° = Grundlagen der Theologie. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-451-30303-6.

Rezensent:

Gunther Wenz

Beständige Reform gehört nach reformatorischem Verständnis zum Kirchesein der Kirche: ecclesia semper reformanda. Mag die formelhafte Wendung möglicherweise erst in barthianischen Kontexten des 20. Jh.s ausgeprägt worden sein, so steht sie doch für ein ekklesiologisches Programm, welches für evangelisches Kirchenverständnis von Anbeginn charakteristisch war und nach wie vor kennzeichnend ist. Reformation ist nicht lediglich ein historisches Datum, sondern ein Vollzug, der zum Wesen der Kirche gehört. Dies sieht Jürgen Werbick, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, nicht anders. Sein in ökumenischer Absicht konzipierter Entwurf einer katholischen Ekklesiologie ist zwar nicht auf Revolution, wohl aber auf eine grundlegende Kirchenreform angelegt, die, würde sie realisiert, den gegenwärtigen römischen Katholizismus nicht unerheblich verändern und die christlichen Kirchen der Kirchengemeinschaft einen großen Schritt näherbringen würde.
»Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts.« Nach einleitenden Erwägungen zum Sinn der Kirche und zum Zweck der Ekklesiologie, die sich an dem Leitwort von Bischof Jacques Gaillot orientieren, entwickelt W. in vier Abschnitten und unter besonderer Be­rück­sichtigung der angesprochenen diakonischen Dimension einen ekklesiologischen Begriff kirchlicher Identität. 1. Identität aus Erinnerung: die Kirche als Gottes Volk. 2. Die Leib-Identität des Christlichen: Gliedsein im Leib Christi. 3. Identität in Christus-Kommunikation. 4. Sakramental und diakonisch zugleich: Identität im Übergang. Alle vier Teilabschnitte verbinden eindringliche Gegenwartsanalysen mit sorgsamer Erhebung von biblischen sowie dogmen- und theologiegeschichtlichen Befunden, um unter unterschiedlichen Gesichtspunkten das Verständnis der Kirche als einer menschendienlichen Gottesdienstgemeinschaft zu entwickeln.
Als communio sanctorum ist die Kirche die Gemeinschaft derer, die durch gläubige Teilhabe an Wort und Sakrament an der in der Kraft des Heiligen Geistes erschlossenen Offenbarung Gottes in Jesus Christus partizipieren und so zur Einheit der Liebe und der Hoffnung zusammengefügt sowie zum Zeugnis und Dienst für Menschheit und Welt bestimmt sind. Die institutionellen Strukturen und Ordnungen der Kirche sind konsequent auf diese Bestimmung hin auszurichten und nach Maßgabe des ekklesiologischen Begriffs der communio sanctorum kommunikativ und verständigungsorientiert zu gestalten. In ökumenischer Perspektive sind vor allem die amtstheologischen Folgerungen interessant, die sich aus diesem Ansatz ergeben.
W. stellt den Wesensunterschied zwischen dem Priestertum, das allen getauften Gläubigen gemeinsam ist, und dem ordinationsgebundenen Amt nicht infrage; aber er bestimmt ihn auf eine Weise, die mit evangelischen Grundsätzen prinzipiell kompatibel ist. W. be­tont die Notwendigkeit von Gliederungsformen des ordinationsgebundenen Amtes und hebt das episkopale Amt übergemeindlicher Aufsicht als ein unverzichtbares ekklesiologisches Erfordernis hervor; aber er setzt das pastorale Amt, das seine Primäraufgabe in der Leitung der versammelten Gottesdienstgemeinde findet, nicht zum bloßen Modus und Instrument des Bischofsamtes herab, dessen Wesen nach W. nicht zuerst durch hierarchische Prärogativen, sondern durch kommunikativen Dienst an kirchlicher Einheit ge­kennzeichnet ist. Das dogmatische Theorem der apostolischen Sukzession im Bischofsamt wird unter diesen Voraussetzungen ebenso reformuliert wie die überkommene Theorie von Infallibilität und universalkirchlichem Jurisdiktionsprimat des Bischofs von Rom.
Nicht dass durch solche Reformulierungen bereits alle ekklesiologisch-amtstheologischen Kontroversen ökumenisch behoben wären: Aber die Konturen eines differenzierten Konsenses zeichnen sich erkenntlich ab. Gründlich problematisiert wird von W. insbesondere die offizielle Standardsequenz, mit welcher den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen römisch-katholi­scherseits bestritten wird, Kirchen im eigentlichen Sinne zu sein. Weil sie der apostolischen Nachfolge im Bischofsamt und damit der entsprechenden Kompetenzen etc. entbehrten, sei ihr Amt mit einem defectus ordinis versehen, woraus folge, dass die Vollgestalt des eucharistischen Mysteriums in ihnen nicht erhalten geblieben sei: Römisch-katholischen Christen ist es dementsprechend vonseiten ihrer Kirchenleitung offiziell untersagt, in evangelischen Abendmahlsfeiern zu kommunizieren, evangelischen Christen nur in wenigen Ausnahmefällen gestattet, in der Messe Leib und Blut Jesu Christi zu empfangen. W. zeigt, wie eng begrenzt der ökumenische Horizont solcher und ähnlicher Argumentationsabfolgen in Theorie und Praxis ist, und er bemüht sich nach Kräften, ihre Schranken aus der eigenen Konfessionstradition heraus zu transzendieren.
Die Studie zu Grundfragen der Ekklesiologie schließt an vorangegangene ekklesiologische Entwürfe W.s an, an den Band »Kirche« (Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis) von 1994 sowie an die einschlägigen Passagen in der Fundamentaltheologie »Den Glauben verantworten«, die 2005 in einer dritten, völlig neu bearbeiteten Auflage erschienen ist. Der neue Versuch unterscheidet sich nach eigener Einschätzung W.s »von den vorhergehenden nicht nur durch die gebotene Kürze, sondern durch viele neue Akzente und manche Fragen, die einer seit Anfang der Neunzigerjahre tiefgreifend veränderten kirchlichen Situation geschuldet sind« (11, Anm. 2). W. belässt es nicht dabei, die Tiefe kirchlicher Veränderungen seit dem II. Vatikanischen Konzil kritisch auszuloten, er gibt zugleich konstruktive ekklesiologische Antworten, welche künftigen Entwicklungen die Richtung weisen sollen. Summa summarum: ein bedeutendes Buch eines bedeutenden Theologen, das ökumenische Potentiale enthält, die der Realisierung harren.