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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1168-1169

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Thiede, Werner

Titel/Untertitel:

Mystik im Christentum. 30 Beispiele, wie Menschen Gott begegnet sind.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus – edition chrismon 2009. 256 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-86921-003-2.

Rezensent:

Wolfram Mirbach

Christliche Mystik? Man glaubt, die sattsam bekannten, zu Plattitüden erstarrten Scheinargumente zur Genüge zu kennen: Mystik sei das Gebot der Stunde, sie sei ganzheitlich und erfahrungsorientiert und trete damit einer abgelebten, verkopften und dogmatisierten Kanzel- und Kathederreligiosität entgegen. Viele, allzu viele Bücher nicht nur in neureligiös-esoterischem, sondern auch im christlichen Umfeld beschreiten diesen Weg. Da ist es wohltuend, wenn Werner Thiede in seinem neuen Buch diesem Phänomen inhaltlich verständlich und mit systematisch-theologischer Klarheit begegnet. Er geht hierbei sowohl grundlegend als auch exemplarisch vor. Grundlegend insofern, als er hinter erstarrte Begrifflichkeiten blickt und einen eigenen Standpunkt zur Diskussion stellt. Exemplarisch insofern, als er, wie der Untertitel betont, beispielhafte Mystiker aus Geschichte und Gegenwart herausgreift und kurz, aber präzise darstellt.
Diese Darstellungen der Einzelpersonen und ihres mystischen Denkens oder Erfahrens können, dem Umfang und Charakter des Buches entsprechend, nicht ausführlich sein, sondern beschränken sich auf jeweils fünf bis acht Seiten. Die Auswahl lässt natürlich Wünsche offen. Sie ist bei aller Offenheit überwiegend von einem mitteleuropäisch-protestantischen Standpunkt getragen, wobei der Rezensent bedauert, dass zwar etwa Johannes vom Kreuz, nicht aber Teresa de Jesús dargestellt wird und auch Ignatius von Loyola fehlt.
Den vorgestellten Personen lässt Th. Gerechtigkeit widerfahren, er stellt sie zuerst in ihrem eigenen Denken dar. Wo er Kritik äußert, tut er dies moderat und sachlich. Der entscheidende Punkt des Buches scheint mir aber nicht in der – selbstverständlich verdienstvollen – vorurteilsfreien Darstellung des mystischen Denkens so unterschiedlicher Personen wie z. B. Jesus, Origenes, Lu­ther, Böhme, Schleiermacher, Karl May, Wilhelm Löhe oder Rudolf Steiner zu liegen. Der für den Umgang mit dem Phänomen »Mystik« entscheidende Punkt stellt sich mir in systematischen Grundüberlegungen dar, die die 30 Porträts einrahmen.
Nach einleitenden Vorbemerkungen, in denen Th. bereits erhellende Kriterien herleitet, denen zufolge christliche Mystik »einerseits an der Jenseitigkeit Gottes festhält, andererseits aber die Welt radikal auf diesen Gott der Liebe bezogen sieht« (18), geht er Grundfragen des Verhältnisses der Mystik zu anderen Phänomenen nach und füllt den Begriff »Mystik« gleichzeitig inhaltlich. Er weist darauf hin, dass es in der christlichen Mystik um Spiritualität im Sinne einer »von lebendiger Liebe zu Gott und den Menschen gespeiste[n] Frömmigkeit« (24) geht und nicht um eine neohinduistisch verstandene Ur-Einheit von Gott als Geist und der Welt. Entsprechend der Bedeutung der Eschatologie für christliches Denken arbeitet Th. heraus, dass für christliche Mystik der beliebte Begriff der Erfahrung letztlich – nämlich solange Erfahrungen überholbar bleiben – auf die »letzten Dinge« bezogen ist und sich weniger in Spekulationen über »höhere Welten« ergehen sollte. Damit erteilt er auch der verbreiteten »Sondererfahrung eines ›kosmischen Bewusstseins‹« (33) eine Absage, insofern hier allzu leicht eine Harmonie vorgetäuscht werde, die im Sinne eines christlichen Weltverständnisses unakzeptabel sei. Vielmehr komme es darauf an, Kreuzestheologie und Mystik zu verbinden. Und wenn Mystik christlich sein wolle, könne sie auch einem synkretistischen Verständnis von Religiosität nicht das Wort reden. An all diesen Punkten komme im landläufigen Verständnis von »Mystik« ein Monismus zum Tragen, der schon in sich nicht christlich sei und zu sehr von der grundlegenden Unterschiedenheit von Gott und Mensch absehe.
Von daher entfaltet Th. in den »Schlussgedanken« sein eigenes Verständnis von Mystik: »Glaube, Hoffnung und Liebe … lassen den verborgen anwesenden Herrn der Zukunft zur Voraus-Wirkung kommen« (233). Unterschieden wird eine »regressive Mystik«, die »zurück in die Anfänge des eigenen Daseins [fällt]« (235), von einer »progressiven Mystik«, »wo in der geistigen Verbindung mit Chris­tus sogar jene allerletzte Linie überschritten ist, die noch Gefahr bedeuten könnte: das Endgericht …« (234). Hier muss Th.s Vorstellung von christlicher Mystik auf die Apokatastasis-Lehre hinauslaufen. Indem er ein »gute[s] Ende aller Dinge« voraussetzt (234), setzt sich Th. freilich der Frage aus, ob er nicht nun seinerseits eine Harmonie behauptet – eine eschatologische immerhin, die anzunehmen den fundamentalen Unterschied von göttlicher und menschlicher Erkenntnis vernachlässigt.
Auch wenn man wie der Rezensent hier nicht folgen mag, ge­bührt Th.s Buch unstreitig das Verdienst, dass es durch das Ausgreifen auf systematisch-theologische Zusammenhänge und Fragen wesentlich mehr leistet, als man das von herkömmlichen Einführungen in die Mystik gewöhnt ist. Es eröffnet neue Denkanstöße und Diskussionsmöglichkeiten auf einem Feld, von dem man eigentlich glaubte, dass schon alles gesagt worden wäre.