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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1165-1168

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Obst, Helmut

Titel/Untertitel:

Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee.

Verlag:

München: Beck 2009. 296 S. 8° = Beck’sche Reihe, 1896. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-58424-4.

Rezensent:

Christof Gestrich

Es handelt sich um einen Überblick über die Fülle der Inkarnationsvorstellungen der Welt. Die sprachliche Darstellung kommt einem breiten Leserkreis entgegen. Das historisch und sachlich solide informierende Buch erhebt zugleich einen systematisch-theologischen Anspruch: Es ist interessiert an heutigen Fortschritten bei den schon seit vielen Jahrhunderten stattfindenden Begegnungen zwischen Christentum und Reinkarnationsglauben. O. ist der Ansicht, das Christentum könne sich im Zuge einer theologisch adäquaten Rezeption bestimmter Aspekte der Reinkarnationsidee erneuern.
Natürlich sieht O. genau, dass weder pauschal vom Christentum als einheitlicher Größe noch pauschal von einer Reinkarnationsidee gesprochen werden darf: Das Christentum begegnet geschichtlich pluriform; der Glaube an eine Reinkarnation hat ebenfalls je nach den kulturellen und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen verschiedene Ausprägungen oder Akzente (Pa-­lin­genesie, Seelenwanderung, Metempsychose, Metemsomatose usw.). Er ist zudem eingebettet in unterschiedliche Menschenverständnisse und Weltanschauungen von teils religiösem, teils philosophischem Gepräge. Trotzdem mache es gerade den Reiz der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Fragenkreis aus, dass er oszilliert zwischen der jeweils geschichtlich vorgegebenen Form und eben doch einer Idee, derer man sich auch dort bedienen oder annähern kann, wo die eigene bisherige Kultur- und Religionsgeschichte jede (oder fast jede) Reinkarnationsvorstellung bislang noch ausschließt. Damit wird von O. nicht zuletzt die Realität moderner Patchwork-Religiosität auf dem Hintergrund der Globalisierung bewusst angesprochen.
Das Buch ist in acht Teile gegliedert. Kapitel 1 blickt auf die asia- tischen Religionen (Hinduismus, der den Kreislauf der Wiedergeburten lehrt; Buddhismus, der die Wiederverkörperung ohne ›Seelenwanderung‹ denkt; Jainismus, der neue Wege zur Überwindung der Wiedergeburten aufzeigt; Sikhismus, der die hinduistische Seelenwanderungsvorstellung an den Islam heranträgt). Kapitel 2 untersucht Wiedergeburtsvorstellungen meist kleinerer indigener Völker Afrikas, Amerikas, Australiens und Asiens – ein weithin unbekannt gebliebenes Gebiet! Teils wird hier von Säuglingsreinkarnationen (z. B. verstorbener Geschwister), teils von Ahnenreinkarnationen ausgegangen. Kapitel 3 befasst sich mit den antiken Vorstellungen der Griechen und Römer, der Kelten und Germanen; besonders wichtig sind hier die Darlegungen zu Pythagoras und zu Platon; außerdem wird ein Exkurs geboten über Gnosis und Manichäismus, innerhalb derer die Erlösung an die von körperlichen Einflüssen befreite ›Erkenntnis‹ geknüpft wird. Kapitel 4 untersucht das überwiegend kritische Verhältnis zum Reinkarnationsglauben in Judentum, Islam und verwandten Religionen. Kapitel 5 beschäftigt sich dann mit Christentum und Kirchengeschichte, angefangen bei den umstrittenen Andeutungen eines Wiederverkörperungsglaubens im Neuen Testament bis hin zur Dauer-Ablehnung der Reinkarnation in den offiziellen kirchlichen Lehren und zur entsprechenden Favorisierung der Reinkarnation in den Häresien des Christentums und in der abendländischen Philosophie von der Renaissance bis zur Moderne. Kapitel 6 erweitert diese Betrachtungen noch durch eine Fokussierung der verzweigten Vorgänge, durch die der Reinkarnationsgedanke in der Neuzeit ins Zentrum des europäischen Geisteslebens gerückt ist – wobei radikale Pietisten (wie Johann Konrad Dippel, Georg Christoph Brendel) und Denker und Dichter (wie Lessing und Lichtenberg, Goethe und Herder, Fichte und Schelling, Hegel und Hölderlin, Schopenhauer und Grillparzer und viele andere, die hier neue Wege des Weltbegreifens fanden) miteinander unterwegs waren, freilich in unterschiedlichen Abstufungen. Kapitel 7 ist überschrieben mit Weltanschauliche Protestbewegungen und religiöse Gemeinschaften in der Moderne; beleuchtet werden hier Spiritismus, Theosophie, Anthroposophie sowie Propheten und Gurus des 19. und 20. Jh.s. Kapitel 8 berichtet von kirchlichen Reaktionen und theologischen Neuansätzen unserer Zeit. Ein kurzer Epilog weist abschließend noch einmal auf die heutige weltweite Attraktivität des Reinkarnationsglaubens und auf die Unvermeidlichkeit einer christlich-theolo­gischen Beschäftigung mit ihm hin.
O. hat eine breite – ältere und neue – Literatur verarbeitet, um diesen umfassenden Überblick vorlegen zu können. Teils hat er direkt aus den Quellen geschöpft, teils aus – im Literaturverzeichnis aufgelisteten – Monographien und übergreifenden Fachdarstellungen. Seine Komposition und Auswahl scheint mir gelungen. Allenfalls wünschte ich mir manches etwas weniger ausführlich mitgeteilt – etwa, wie im 18./19. Jh. immer wieder die Reinkarnationsmöglichkeit auf einem (noch unentdeckten) Parallelplaneten erspekuliert wurde; anderes dagegen etwas ausführlicher dargestellt – etwa wenn von Friedrich Hölderlin nur mitgeteilt wird, auch ihm würden Sympathien für Reinkarnationsspekulationen nachgesagt (158). Inwiefern?
Auf dem Hintergrund wichtiger rezenter Veröffentlichungen – z. B. der 1999 erschienenen »Geschichte der Seelenwanderung in Europa« von Helmut Zander – kann O. zeigen, wie tief eingewurzelt die Reinkarnationsidee in unserem westlichen Kulturerbe längst schon ist (vor allem in der schon bei Lessing begegnenden ›unöstlichen‹ Form, dass es attraktiv sein könnte, weitere Geburten ›vor sich‹ zu haben). In vorsichtigem Urteil hierüber wird der Leserschaft mehr ›zwischen den Zeilen‹ mitgeteilt: So wenig die Theo­logie eine innere Selbstausgleichung mit der Philosophie der Auf­-klärung heute noch vermeiden kann, so wenig kann sie dies hinsichtlich der Reinkarnationsidee und deren Möglichkeiten, eine himmlische Gerechtigkeit plausibel zu machen und eine den Menschen über den Tod hinaus zur seelischen Ganzheit führende Entwick­lung anzusagen. O.s langjähriges Engagement im Bereich der christlichen Apologetik, genauer: der Auseinandersetzung der evangelischen Theologie und Kirche mit anderen Konfessionen, Denominationen, Religionen und Weltanschauungen, führte auch hier zu einigen zurückhaltend vorgetragenen Ratschlägen, die eine bloße Darstellung der »Weltgeschichte einer Idee« allerdings überschreiten. Aber diese Überschreitungen vonseiten des religionswissenschaftlichen Fachmanns werden vielen, die dieses Buch lesen, angesichts bestehender Unsicherheiten und offener Fragen als erwünscht erscheinen.
Man wird sogar O.s abschließende Überlegungen zum bisherigen Nein der Kirchen zur Reinkarnationsidee besonderes Interesse entgegenbringen (230 ff.). O. präsentiert die wesentlichen Argumente der ›Ablehnungsfront‹. Dann stellt er ihnen heutige Versuche einer theologischen Annäherung gegenüber. Für die katholische wie für die evangelische kirchliche ›Schulauffassung‹ kann das die Reinkarnationsvorstellung ablehnende Votum des Wiener Erzbischofs Kardinal Christoph Schönborn zitiert werden: »Die Re-inkarnation hat im Christentum keinen Platz, weil das Leben in Christus bereits das Endziel ist.« »Was gäbe es noch zu suchen, wenn man Ihn gefunden hat?« »Die lange Suche des Menschen ist zu Ende. Was wir durch endlose Wiedergeburten nicht finden könnten, ist uns geschenkt worden.« (237 f.) Daher gebe es keine Ausgleichsmöglichkeit zwischen der christlichen Eschatologie und irgendeiner Reinkarnationslehre. Besonders steht der Karma-Ge­danke, unser Heil hänge von unseren Werken ab, einer Verständigung im Weg. – Aber immer zahlreicher wurden in den letzten fünf Jahrzehnten kirchliche theologische Stimmen, die in der Reinkarnationsidee mindestens gut gestellte und auch im Christentum be­rechtigte Fragen wahrnehmen; O. zitiert hier u. a.: Ernst Benz, Hans-Martin Barth, Michael von Brück, Michael Bergunder, Ri­chard Friedli, Andreas Resch, Ernst Sehringer, Rüdiger Norbert Bischofsberger, Geddes MacGregor, Till A. Mohr.
Was ist nun bei den Synthese-Vorschlägen nur ›Wunschdenken‹, was zweifellos theologisch beachtlich? O. meint, christlich-theologisch beachtlich ist nur, was bei Annäherungen an die Reinkarnation festhält an den beiden christlichen Axiomen, dass die Erlösung des Menschen Fremderlösung ist und dass das Heil an die Mensch­werdung Gottes in Jesus Christus geknüpft ist. Ferner müsse klar bleiben: »Nicht die Werke des Menschen garantieren das Heil, sondern der Glaube.« (256)
Was aber, wenn dieser Glaube von sehr vielen Menschen gar nicht angenommen werden kann wegen ihres Lebensortes und ihrer Lebenszeit? Ist dann zu erwarten, dass Gott ihnen noch eine Lebensmöglichkeit bietet, die den Glauben einschließen kann (oder muss hier Jean Calvins Lehre von der ›doppelten Prädestination‹ das ›letzte Wort‹ zur Sache bleiben)? Ist mindestens dort, wo nur ein kümmerliches, leidvolles Menschenleben zur Verfügung stand, christlich-theologisch damit zu rechnen, dass Gott noch nachtodliche Entwicklungsmöglichkeiten bereithält? Vor allem dies wird zur zentralen Frage: Schließt der christliche Erlösungsglaube Persönlichkeitsentwicklungen post mortem, auch solche der Läuterung, generell aus? O. hält Fragen dieser Art für noch nicht abschließend geklärt. Seine eigene Meinung gibt er in folgender Form kund: »Christentum und Reinkarnation! Ist das wirklich unmöglich? Hat das Christentum im Laufe seiner Geschichte nicht eine erstaunliche Integrationskraft bewiesen?« »Gibt es nicht innerhalb der Kirchen seit langem mehr oder weniger stillschweigend erhebliche Lehrveränderungen?« O. fügt hinzu: »Die bei einigen namhaften Theologen und kirchlichen Amtsträgern anzutreffende Ablehnung der Lehre vom Sühnopfer Jesu Christi und der Heilsbedeutung des Abendmahls ist ein tieferer Eingriff in die biblische Kernbotschaft … als ein diese christliche Zentrallehren nicht in Frage stellender ›christlicher‹ Reinkarnationsglaube.« (261)
Das wird sich noch zeigen müssen. Eine christliche Assimilierung der ›Reinkarnationsidee‹ wird wohl (erst) dann an Kraft und Fahrt gewinnen, wenn es theologisch gelingen sollte, gerade mit ihrer Hilfe die ›biblische Besonderheit‹ noch stärker zu machen, dass das menschliche Individuum mit seiner unwiederholbaren einmaligen und besonderen Persönlichkeit, trotz aller Schuld, bleiben darf (weil Gott an ihm ewig festhält) – und nicht etwa das Problem darstellt, das mit der Hilfe von Wiedergeburten wegzuschaffen wäre.