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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1163-1165

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hoping, Helmut, u. Michael Schulz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unheilvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2009. 239 S. 8° = Quaestiones disputatae, 231. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-451-02231-9.

Rezensent:

Johannes Block

Der Band – ergänzt durch eine Einleitung (10–24) – versammelt neun Beiträge, die während einer Tagung in der Akademie Erbacher Hof in Mainz im Jahr 2007 gehalten wurden. Das apologetische Anliegen, die Relevanz der Erbsündenlehre im Horizont theolo­-gischer Anthropologie aufzuweisen (10–13), wird interdisziplinär und interkonfessionell in Angriff genommen. »In einer unübersichtlich gewordenen Gemengelage auch innerhalb der Erbsündentheologie« will dieser Tagungsband »einen klärenden Zwi­schenblick wagen« (13). Als wichtige Wegleitungen werden der interdisziplinäre, mithin phänomenologische Anspruch (12), die Ent­faltung einer »den Menschen in seinem radikalen Sinnverlangen und in seiner Heilsbedürftigkeit« aufdeckenden Hermeneutik jenseits einer »Kasuistik der sittlichen Verfehlungen« (12 f.) und die Dialektik von »hamartiologischem Adamereignis« und »soteriologischem Christusereignis« (15) genannt. Der mit zur Einführung zählende Beitrag von Julia Knop (25–48) bietet aus katholisch dogmatischer Perspektive einen »kursorischen Überblick« (44) über die gegenwärtige Landschaft der Erbsündenlehre. Die Durchsicht in interkonfessioneller Weite resümiert drei Hauptwege: den Weg der fundamentalanthropologisch, der transzendentalphilosophisch und der dogmatisch ansetzenden Reformulierung (44–47). In Ab­grenzung gegen pessimistische und moralistische Engführungen besteht das hermeneutische Potential der Erbesündenlehre darin, dass der Mensch einen realistischen und wohlwollenden Blick auf sich selbst gewinnt (36.47 f.).
Die Beiträge im »pädagogisch-philosophischen Horizont« beinhalten thematische Tiefbohrungen auf unterschiedlichen Feldern. So sehr die Ausführungen des kanadischen Philosophen Sean J.McGrath über »Jakob Böhmes Begriff des Bösen« (50–76) eine he­terodoxe Position in Erinnerung rufen, so unverbunden und solitär wirkt das dargestellte, mystisch inspirierte und dialogisch durchwirkte Verständnis des Bösen »als eine Dualität in Gott« (51). Größere Bögen mit erkennbaren Schlussfolgerungen zieht Reinhard Boschki in seiner Gegenüberstellung der idealistischen Päd­-agogik Jean-Jacques Rousseaus und der realistischen Pädagogik Janusz Korczaks (77–97). Aus dem Gespräch mit der Hamartiologie gewinnt die Pädagogik Abstand von einem optimistisch überhöhten Menschenbild, insofern die Determiniertheit und die sündige Grundsituation des Menschen nicht ausgeblendet werden. Das soteriologische Moment der »Gnade« (94) wird allerdings mehr angedeutet als ausgeführt. Ohne soteriologische Pointe besteht die Gefahr, dass auch ein als real ausgelobtes Menschenbild zur absolvierenden Aufgabe wird und so eine optimistische Pädagogik höherer Art zur Hintertür wieder eintritt.
Chancen und Grenzen der Interdisziplinarität machen die Beiträge im »naturwissenschaftlichen Horizont« deutlich. Josef Quitterer bringt die Erbsündentheologie mit der scheinbar unvereinbaren Neurowissenschaft ins Gespräch, indem der Begriff der Freiheit geklärt und als Vergleichsmoment entfaltet wird (100–119). In Aufnahme der Position Raymund Schwagers vernetzt Nikolaus Wandlinger Erbsündentheologie und Evolutionstheorie (120–140). Das Vergleichsmoment in diesem Fall bildet der evolutionäre Entwick­lungsprozess, bei dem ein früheres Ereignis die spätere Kultur mitkonstituiert, worin ein Kernmoment der Erbsündenlehre besteht. So originell die gleichsam scholastisch inspirierten Versuche einer Synchronisierung von Naturwissenschaft und Theologie wirken, so unverhofft meint man sich in einer Art babylonischen Gefangenschaft wiederzufinden: In der Chance naturwissenschaftlicher Plausibilität lauert die Gefahr eines historisierenden und ethisierenden Sündenbegriffs; zudem droht sich das Sündenverständnis, einmal naturwissenschaftlich eingeholt und ausgedeutet, wie ein weißes Motiv vor weißem Hintergrund aufzulösen.
Die Beiträge im »dogmatischen Horizont« evangelischer Prägung zeigen sich darin typisch, dass sie die Radikalität der reformatorischen Erbsündenlehre aufgreifen: Die Macht der Erbsünde liegt jenseits menschlicher und kirchlicher Einflussmöglichkeiten und wirkt sich nicht einfach in sittlichen Verfehlungen aus. Darin besteht das »hermeneutische Dilemma«, dass Sünde allein im Glauben offenbar wird und doch in sichtbaren Bezügen vergegenwärtigt werden muss (167 f.). Christine Axt-Piscalar interpretiert Sören Kierkegaards Sündenbegriff als Reformulierung der reformatorischen Position unter den Bedingungen der Moderne (142–160). Kierkegaard ergründet Sünde vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Freiheitsdebatte aus der Struktur endlicher Freiheit (151). So gelingt ein Sündendenken, das sich »in den existentiellen Katego­rien von Angst und Verzweiflung« entwirft, moralistische Verengungen überwindet und im »versöhnungstheologischen Kontext« angesiedelt ist (147). Die Darstellung lässt leider einen interkonfessionellen Ton und Gewinn aus der Beschäftigung mit Kierkegaard vermissen. Konfessionell gesprächsbereiter wirken die Ausführungen von Christof Gestrich, dessen Interpretation der Erbsünde als Selbstrechtfertigung zwischen Glauben und Erfahrung zu vermitteln versucht (161–177). Allein aus Glauben lässt sich die Erkenntnis der Selbstrechtfertigung gewinnen, die sich gleichwohl empirisch auswirkt, worin die Aktualität der Erbsündenlehre besteht: Der homo peccator verwechselt die vorletzten mit den letzten Dingen, was zum Missbrauch und zur Zerstörung der Mitgeschöpfe führt (168–173). »Konfessionellen Konsens« entdeckt Gestrich in der Überzeugung vom wechselseitigen Bezug zwischen Erbsündentheologie und Soteriologie (162). Auch die Hinwendung zur »dogmatischen Tradition der Kirche« jenseits apologetischer Vermittlungsbemühungen mag ein ökumenischer Fingerzeig sein (173–175).
Folgt man der oben angebotenen Wegleitung, dann lassen sich die Beiträge im »dogmatischen Horizont« katholischer Prägung den transzendentalphilosophisch ansetzenden Reformulierungen zurechnen. Das Interesse verschiebt sich von Gesichtpunkten der Sittlichkeit auf Fragen der anthropologischen Reflexion. Helmut Hoping umreißt – in Abgrenzung zum Traduzianismus – eine transzendentale Hermeneutik der Erbsünde, deren Wurzel tiefer reicht als jeder bewusste Freiheitsakt (180–191). Die transzendentale Freiheit ist Ursprungsfeld des Bösen, das sich in Egozentrizität äußert (187–190). Vor dem Hintergrund einer theodramatischen Weltanschauung verortet der – auch undurchsichtig wirkende – Text von Michael Schulz die Erbsündenlehre in die menschliche Freiheitsgeschichte (192–232). Die soteriologisch gefasste Erbsündenlehre vermittelt ein reales Bild menschlicher Begrenztheit, so dass die menschliche Erlösungsbedürftigkeit und -fähigkeit positiv in den Blick gerät (231 f.).
Der Band bietet wie angekündigt eine Zwischenbilanz: nicht weniger, aber auch nicht mehr. So vielfältig Lehrentwicklungen referiert und Positionen entfaltet werden, so disparat und teils auch widersprüchlich wirkt die Zusammenstellung. Es wäre eines weiteren Beitrages wert gewesen, den Abstimmungs- und Klärungsbedarf auszuloten: etwa die Differenzierung von Sünde und Bösem, das Verhältnis von theologischer und ethischer Dimension, die Chancen und Grenzen von Interdisziplinarität und damit verbunden die Chancen und Grenzen apologetischen Vorgehens in Sachen Erbsündentheologie, die Vor- und Nachteile freiheitsphilosophisch orientierter Ansätze oder die Aufarbeitung kontroverstheologischer Fragen. Angesichts der mehrheitlich katholisch ge­prägten Beiträge dokumentiert die Aufsatzsammlung auch den Versuch, Auswege aus der »hermeneutischen Krise« zu entdecken, in der sich »die gesamte traditionelle katholische Urstandslehre« befindet (162). Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg scheint die im Band wiederholt angesprochene Dialektik von Erbsündentheologie und Soteriologie zu sein.