Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1161-1163

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gestrich, Christof

Titel/Untertitel:

Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- u. Verlagshaus – edition chrismon 2009. 246 S. gr.8°. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-86921-004-9.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Die gegenwärtige evangelische Theologie hat Christof Gestrich zufolge erhebliche Defizite, wenn es um überzeugende Antworten auf die Frage geht: »Was geschieht mit mir, wenn ich sterbe?« (15) Deshalb sucht er nach Wegen, die evangelische Eschatologie – d. h. die Lehre von den letzten Dingen in der evangelischen Theologie – zu erneuern, indem er zwei Problemkreise verknüpft: die »Rück-­eroberung der Seele« (12) und die in der Vaterunserbitte ausgedrückte Hoffnung auf das »Kommen des Reiches Gottes: die Hoffnung auf die durchgehende Neugestaltung der Weltverhältnisse durch Gott« (19). Beide werfen unterschiedliche Fragen auf (indi­-viduelles ›Weiterleben‹, gemeinsame bzw. kosmische Neugestaltung), und es ist nicht unmittelbar ersichtlich, wie sich aus der Verbindung von Dunklem mit Dunklem ein erhellender Effekt ergeben kann.
Um Klarheit zu schaffen, geht G. in vier Schritten vor. In einem ersten Kapitel (Unsterbliche Seele – ein Traum von gestern?) führt er in die Thematik ein, indem er den Verlust der Seelenthematik in der neueren evangelischen Theologie als Problem diagnostiziert und den Sinn der christlichen Eschatologie erläutert. Die Seele des Menschen bestimmt er »als die Seelenkraft, die einen Menschen zur Übereinstimmung mit sich selbst bzw. zu Identität zu bringen trachtet« (75). Den Zentralgedanken christlicher Eschatologie sieht er in der Vorstellung vom Reich Gottes. Um das Eschatologiedefizit in der gegenwärtigen evangelischen Theologie zu überwinden, müsse daher ein »erneuertes Verständnis der menschlichen Seele ... diese theologisch mit dem Reich Gottes in Verbindung bringen.« (76)
Das zweite Kapitel (Für welche Erlösung steht Jesus Christus?) vollzieht die theologische Grundlegung dieses Programms in Auseinandersetzung mit der Hiobfrage, C. G. Jung, Kierkegaard und den Hochfesten des Kirchenjahrs. Von Jesus sei im Licht der Hiobgeschichte zu lernen, dass es aus den drei Grundübeln der Menschen – Leiden, Schuld, Tod – keine Chancen der Rettung gebe, »wenn nicht Gott selbst etwas über Moses hinausgehendes Neues schafft« (115). Dazu bedarf es eines lichteren Gottesverständnisses, das sich in den Evangelien in der »Auseinandersetzung Jesu mit dem Satan« anbahne und im Bekenntnis zu Jesus als dem ›Sohn Gottes‹ seinen Niederschlag finde (115). Mit dem Glauben an den vom Tod auferstandenen ›Christus in uns‹ ergebe sich für die Seele aber eine »neue Lage: Das von einer Person vielleicht schon gesuchte, aber ihr immer unerreichbar gebliebene individuelle Selbst, die eigene Identität, ist nun als Vorgriff auf das eigene Selbst in der Seele schon erschienen.« (116 f.) Damit wird das »menschliche Ich (Ego) ... davon befreit, sich mit dem eigenen Selbst zu verwechseln.« (117) Den Weg zum eigenen Selbst muss man zwar immer noch selbst gehen. Aber dieser »Weg wird über den Tod hinausführen« (117).
Das dritte Kapitel (Kann die Seele evident beschrieben werden?) wendet sich der für das ganze Projekt zentralen Frage zu, den Seelenbegriff zu plausibilisieren. In knappen Strichen erläutert G. die verschiedenen Seelenkonzeptionen der philosophischen und theologischen Tradition. Aber diese unterschiedlichen Deutungen als Leben, Gefühl, Ich, Organ der Wahrheitserkenntnis, Geist usf. sind nicht das letzte Wort. Zum einen laufen ihm zufolge die altgriechischen und biblischen Verständnisse von Seele mehr oder weniger auf das Gleiche hinaus. Zum andern lässt sich das »scheinbare semantische Chaos ... im Identitätsbegriff ordnen«: Die verschiedenen Bestimmungen der Seele sind »notwendige und zusammenhängende Bestimmungen der werdenden Identität, die aus einer ersten ererbten Vorgegebenheit heraus noch einmal neu erworben werden muss« (184). Dieser Identitätsbildungsprozess ende nicht mit dem Tod, sondern setze sich in Gottes Ewigkeit fort. Ewigkeit sei – wie G. vor allem in Auseinandersetzung mit K. Barth betont – »nicht ›unzeitlich‹, nicht ›überzeitlich‹ und nicht ›gegenzeitlich‹« zu verstehen, »sondern als ein Raum mit Kräften, um unvollendetes individuelles Leben zur Vollendung zu bringen. Diesen Raum nennt das Neue Testament Reich Gottes« (185). Ewigkeit und Reich Gottes werden damit als zwei Bezeichnungen für die gleiche Sache ausgegeben: den Raum, in dem »der Mensch seelisch zu sich selbst« kommt (185). Damit muss freilich auch unter ›Raum‹ etwas anderes verstanden werden als in den gängigen Raumkonzeptionen. G. geht darauf nicht genauer ein, deutet es aber an, indem er den Menschen im Horizont der »Geschehnis-Zeit ... als Austragungsort sich überlagernder Raum-Zeit-Kontinua« beschreibt und »die Seele als Geschehnis-Ort von Stellvertretungen« (163 f.). Mit dieser Umstellung von Raum auf Ort muss auch die Rede von der »Auferstehung der Toten« theologisch neu verstanden werden (172). Eschatologisch entscheidend sei nicht der Leibbegriff, sondern der Gestaltbegriff: »Es geht nicht um den Leib, der wiedererweckt wird, sondern um das Erlangen einer neuen Gestalt, die Christus entspricht, um das Erlangen einer Identität, in der die Individuen untereinander versöhnt und in Liebe verbunden sind« (185 f.). Die Seele brauche »eine Zugehörigkeit, einen Ort«, und den erhalte sie, indem sie am Leib Christi ›subsistiere‹ (185). Nicht eine inhärente Unsterblichkeit bilde »die ›Brücke‹ hin zur Vollendung im Reich Gottes«, sondern »Christi Leib dient als diese Brücke« (185). Deshalb sei auch über den sog. Zwischenzustand theologisch neu nachzudenken.
Ein letztes Kapitel (Auferstehung der Toten oder ewiges Leben?) zieht daraus Konsequenzen, indem Fragen des rechten Verstehens der eschatologischen Bilderwelt, der Heilsgewissheit, der Vorstellungen des Himmels und des Jüngsten Gerichts diskutiert werden. Grundtenor der Ausführungen G.s ist, dass sich die Theologie im Blick auf die menschlichen Fragen nach dem Leben ›danach‹ nicht »auf ein Ignoramus–Ignorabimus« hinausreden dürfe (242). Es sei vielmehr in aller Klarheit zu sagen, dass Menschen durch Gottes Liebe zur »Wiederliebe« gebracht werden. »Diese Zukunft der frohen und auch aktiv-tätigen Wiederliebe Gottes haben wir über den Tod hinaus.« Jede einzelne Lebensgeschichte komme im Reich Gottes zu ihrer Vollendung, und zwar nicht erst irgendwann, sondern nach ihrem jeweiligen Tod. Davon profitieren die noch Lebenden: »Die reine und starke Gottesliebe der Gestorbenen kommt auch den jetzt lebenden Christen zugute, denn sie stärkt deren Kraft im Glauben, in der Liebe und nicht zuletzt in der Hoffnung.« (243) Es bestehe eine tiefe »Verwobenheit der Existenz der Lebenden und der Toten«, die begründet sei in dem »auf die Lebenden und die Toten gleichermaßen zukommenden Gott. ›Ihm leben sie alle.‹« (243)
G. arbeitet mit diesen Überlegungen wichtige Aspekte der Gemeinschaftsdimension seiner eschatologischen Entfaltung der Reich-Gottes-Vorstellung heraus. Zentral ist der Gedanke eines über den Tod hinausführenden Identitätsbildungsprozesses der Wie­­derliebe Gottes, der individuell und gemeinschaftlich als Gestaltgewinnung über die Teilhabe an der Gestalt Jesu Christi gedacht wird. Das Gestaltkonzept und seine Christus-Konkretion sind theologisch fruchtbare Gedanken. Warum zu ihrer Ausarbeitung aber der Seelenbegriff benötigt wird, bleibt dunkel. So unübersehbar ihn G. ins Zentrum stellt, so unklar bleibt, was damit theologisch gewonnen ist. Faktisch arbeitet G. mit einem ganz andern Konzept: dem Identitätsbegriff. Im Rückgriff auf Schelling und in Anlehnung an Ricœur verwendet er diesen als Kurzformel für die ipse-, nicht die idem-Struktur des Lebens. Im Kern geht es dabei um die Selbstwerdung des Menschen, die G. als über Christus vermittelten Prozess versteht, der nicht mit dem biologischen Tod zu Ende ist, sondern sich erst in der ewigen Wiederliebe Gottes vollendet.
Der Intention dieses Gedankengangs wird man gern zustimmen, doch die Durchführung lässt viele Fragen offen. Lassen sich theologisches Selbstwerden und physisches Dasein so entkoppeln? Kann man das Subsistieren in Christus in dieser Weise vom Exis-tieren in der Welt unterscheiden? Was genau sind die Implikationen des Gestalt-Begriffs? Wie verhält er sich zum Begriff des Raums? Was wird gestaltet, wenn das Ich eine neue Selbst-Gestalt erreicht? Lässt sich der Leibgedanke durch den Gestaltgedanken ersetzen? Wie verhalten sich Ich und Selbst in diesem Leben und nach dem biologischen Tod? Wie genau sind Ich, Selbst, Geist und Seele aufeinander bezogen? Taugt der Identitätsbegriff als erhellendes Integral aller Aspekte, oder ist er nicht selbst überaus erklärungsbedürftig? G. hat vieles Wichtige und Richtige zu sagen, und – das ist besonders zu würdigen – er nimmt die seelsorgerlichen Fragen und Anliegen theologisch ernst. Er greift viele Themen- und Problembestände der Traditionen eschatologischen Denkens auf und kombiniert sie in manchmal überraschender Weise. Aber er bewegt sich in oft zu schnellem Schritt durch zu viele Gebiete, ohne sich hinreichend geduldig auf die philosophischen und theologischen Abgründe einzulassen, die sich dem Verstehen und Denken dabei immer wieder auftun.