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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1157-1160

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Schriften 1801. »Darstellung meines Systems der Philosophie« und andere Texte. Hrsg. v. M. Durner.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2009. XII, 527 S. 4° = Historisch-Kritische Ausgabe. Reihe I: Werke, 10. Lw. EUR 291,00. ISBN 978-3-7728-2394-7.

Rezensent:

Christian Danz

In seinen Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie von 1827 kommt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling auch auf seine eigene Philosophie zu sprechen und ordnet sie in den Entwicklungsgang der neueren Philosophie seit Descartes ein. Schelling fasst in diesen Vorlesungen nicht nur seine nach 1800 konzipierte Frühphilosophie mit dem Leitbegriff Naturphilosophie zusammen, sondern hebt als die allein maßgebliche Darstellung dieser Philosophie auch eine Schrift gesondert hervor. Diese sei, so Schelling, einzig seine 1801 im zweiten Heft des zweiten Bandes der Zeitschrift für spekulative Physik erschienene Darstellung meines Systems der Philosophie. Und in der Tat kommt der Systemdarstellung von 1801 im Gesamtwerk Schellings eine Schlüsselstellung zu. Es ist die erste systematische Darstellung der sog. Identitätsphilosophie.
Die weitere Entwicklung von Schellings Denken knüpft, wie nicht nur die zahlreichen späteren Rückverweise zeigen, an diese Fassung der Philosophie an. Als Schelling 1809 den ersten Band seiner Philosophischen Schriften (Landshut 1809) publizierte, in dem seine Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände erschien, stellte er in der Vorrede die Freiheitsschrift als ideelles Seitenstück dem System von 1801, welches mit der Naturphilosophie endet, zur Seite. Der hier anzuzeigende Band 10 der Reihe Werke der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings bringt nun diesen wichtigen Text Schellings zusammen mit anderen Schriften aus dem Jahre 1801 in einer kritischen Edition.
Der von Manfred Durner herausgegebene und sorgfältig edierte Band enthält insgesamt sechs Textcorpora aus Schellings Feder: zunächst die Beiträge Schellings für den zweiten Band der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für spekulative Physik (1–211), sodann die Rezension von »Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterpräsidenten von Kotzebue bey seiner gehofften Rückkehr ins Vaterland« (213–238), Schellings Rezension von »Ideen zu einer Zoochemie, systematisch dargestellt von Dr. Carl Wilhelm Juch« (239–253), Texte Schellings aus Band 6 des »Magazins zur Vervollkommnung der Medizin« (255–284), Gedichte aus dem »Musen-Almanach für das Jahre 1802« (285–325) sowie die gemeinsam von Schelling und Hegel verfasste Anzeige des »Kritischen Journals der Philosophie« (327–342). Jedes der Textcorpora ist mit einem Editorischen Bericht aus der Feder des Bandherausgebers versehen, der über die Edition, die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Schriften Schellings ausführlich informiert. Weiterhin sind dem Band als Beilagen die Texte des zweiten Bandes der Zeitschrift für spekulative Physik wiedergegeben, die nicht von Schelling stammen. Dabei handelt es sich um zwei Aufsätze aus dem ersten Heft des zweiten Bandes der Zeitschrift von Karl August Eschenmayer mit dem Titel Spontaneität = Weltseele oder das höchste Princip der Naturphilosophie (345–373) sowie Philipp Hoffmanns Beitrag Ideen zur Konstruktion der Krankheit (374–391). Damit werden dem Leser bis auf die Miscellen des zweiten Bandes von Schellings Zeitschrift, die bereits in den Band 8 der Historisch-kritischen Ausgabe aufgenommen wurden, sämtliche Beiträge der Zeitschrift für spekulative Physik zugänglich gemacht.
Die Erklärenden Anmerkungen (393–462) zu den Texten, welche Zitate und Verweise Schellings in seinen Texten präsentieren und dadurch den problemgeschichtlichen Zusammenhang der Schriften erschließen, sowie umfangreiche Register, eine Bibliographie (465–491), ein Namen- (492–499), Orts- (500–501) sowie Sachregister (502–518) folgen auf den konstituierten Text der Schriften des Jahres 1801. Der Band wird beschlossen mit einer Seitenkonkordanz zu Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (519–520), einem Verzeichnis der Siglen, Zeichen, Abkürzungen (521–524) sowie Nachträgen und Verbesserungen zu den bisher erschienenen Bänden der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings (525–527).
Mit dem Band 10 der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings liegen nun die Schriften und Texte Schellings aus dem Jahre 1801 in einer textkritischen Edition vor. Von besonderer Bedeutung für die Idealismusforschung im Ganzen und die Schellingforschung im Besonderen sind zweifelsohne die Texte Schellings aus der von ihm im Jahre 1800 begründeten Zeitschrift für spekulative Physik. Der zweite Band der Zeitschrift, welche der Verbreitung und Diskussion von Schellings Naturphilosophie dienen sollte, erschien in zwei Heften im Januar und April 1801. Das erste Heft des zweiten Bandes enthält einen naturphilosophischen Beitrag von Eschenmayer, der sich kritisch mit Schellings Naturphilosophie auseinandersetzt, den Beitrag von Hoffmann sowie Schellings Aufsatz Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen (85–106). Den Abschluss des ersten Heftes des zweiten Bandes von Schellings Zeitschrift bildet eine Fortsetzung der Miscellen aus dem ersten Band. Das zweite Heft des zweiten Bandes ist dann ganz Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie (109–211) gewidmet.
Schellings Anhang zu der Schrift von Eschenmayer kommt eine Überleitungsfunktion zwischen dem System des transzendentalen Idealismus von 1800 und der Identitätsphilosophie von 1801 zu. In dem prinzipientheoretischen Teil der Schrift führt Schelling das Prinzip seiner Philosophie durch eine doppelte Abstraktion ein. »Ich fordere zum Behuf der Naturphilosophie die intellectuelle Anschauung, wie sie in der Wissenschaftslehre gefordert wird; ich fordere aber außerdem noch die Abstraction von dem Anschauenden in dieser Anschauung, eine Abstraction welche mir das rein Objective dieses Acts zurückläßt, welches an sich bloß Subject-Object, keineswegs aber = Ich ist, aus dem mehrmals angezeigten Grunde.« (92) Dieses reine Subjekt-Objekt wird jedoch in diesem Text von 1801 noch in den zwei Systemteilen der Natur- und der Transzendentalphilosophie expliziert. Erst die Darstellung meines Systems der Philosophie, welche schon durch ihren Titel eine Abgrenzung von Fichte markiert, verlässt diese Systemkonzeption. Sie wird ersetzt durch eine Konzeption, in der beide Systemteile als wechselseitige Darstellungen ein und desselben Prinzips verstanden werden. Dieses Prinzip nennt Schelling 1801 absolute Vernunft und diese sei, so Schelling im ersten Paragraphen des Systems, »als totale Indifferenz des Subjectiven und Objectiven gedacht« (116). Mit diesem Programm legt Schelling eine Konzeption vor, die das Wissen weder von der Seite des Setzungs- noch von der des Bestimmtheitsmoments rekonstruiert, sondern von der Synthesisfunktion selbst ausgeht.
Diese als reine Selbstbeziehung verstandene Synthesis erscheint freilich nur in der Identität des Idealen und Realen. »Die absolute Identität IST nur unter der Form des Satzes A = A, oder diese Form ist unmittelbar durch ihr Seyn gesetzt« (121). Dieser Prinzipienstruktur zufolge liegen ideales und reales Moment bzw. Gesetztheit und Bestimmtheit in allem immer schon verbunden vor. Eine Differenzierung ergibt sich dann allein durch ein Überwiegen des idealen oder realen Moments in der jeweiligen Identität des Idealen und Realen. Schelling nennt dies in der Systemdarstellung von 1801 quantitative Differenz und erläutert sie so, dass in ihr »zwar das Eine und gleiche Identische, aber mit Uebergewicht der Subjectivität, oder Objectivität gesetzt werde« (125). Die ersten 50 Paragraphen des Systems entfalten in Form von Erklärungen, Erläuterungen und Zusätzen den identitätsphilosophischen Systembegriff in seinen Aufbauelementen. Die daran anschließenden Paragraphen 51–159 explizieren, einsetzend mit der Materie als »primum Existens« (144), die Naturphilosophie. Das System von 1801 endet mit der Naturphilosophie. Gesamtdarstellungen des Systems liegen allein in den Würzburger Vorlesungen von 1804 sowie den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 vor.
Von der Zeitschrift für spekulative Philosophie sind lediglich zwei Bände erschienen. Aufgrund von Streitigkeiten mit dem Verleger Christian Ernst Gabler wechselte Schelling im März 1802 zu dem Verleger Johann Friedrich Cotta, wo dieses Zeitschriftenprojekt unter dem Titel Neue Zeitschrift für spekulative Philosophie weitergeführt wurde. Bei den weiteren in den vorliegenden Band aufgenommenen Texten handelt es sich um Rezensionen, mit de­nen Schelling in die zeitgenössischen Debatten, etwa die Brownsche Medizin, eingegriffen hat. Bei einigen Texten, wie etwa dem Artikel Noch einige Worte über Herrn Hufelands Journal, und besonders über den ersten Aufsatz im vierten Stück des elften Bandes desselben (283–284), lässt sich die Verfasserschaft von Schelling nicht mehr eindeutig nachweisen (257).
Ein weiterer Aspekt von Schellings literarischer Tätigkeit aus dem Jahre 1801 wird an den in den Band aufgenommenen Gedichten aus dem Musen-Almanach sichtbar. Von den vier Gedichten (Die letzten Worte des Pfarrers zu Drottning auf Seeland, 305–313; Thier und Pflanze, 317; Lied, 321–322; Loos der Erde, 325) wurden nur die ersten drei, die allesamt mit Bonaventura unterzeichnet sind, in die von Schellings Sohn herausgegebenen Sämmtlichen Werke aufgenommen. Der letzte in den Band aufgenommene Text stellt die Anzeige des von Schelling und Hegel gemeinsam herausgegebenen Kritischen Journals der Philosophie (339–342) dar, die zwischen Dezember 1801 und Januar 1802 in verschiedenen Publikationsorganen erschien (vgl. 329). Der Editorische Bericht informiert sehr prägnant über die verwickelte Entstehungsgeschichte dieses Zeitschriftenprojekts (330–335) im Kontext der zunehmenden Entfremdung von Schelling und Fichte um die Jahrhundertwende.
Mit Band 10 der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Schellings liegt nun ein weiterer hervorragend edierter und kommentierter Band vor, der grundlegende Texte zur Identitätsphilosophie zugänglich macht. Die Debatten zur problem- und werkgeschichtlichen Deutung von Schellings Identitätsphilosophie werden durch diesen Band wichtige Impulse erhalten.