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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1156-1157

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Römpp, Georg

Titel/Untertitel:

Der Geist des Westens. Eine Geschichte vom Guten und Bösen.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. 228 S. 8°. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-534-23033-4.

Rezensent:

Michael Plathow

Anders als der Leser vom Plädoyer des früheren Präsidenten des EU-Parlaments Jacques Delors für eine »Seele Europas« oder von der Wertediskussion zur »Identität« Europas erwarten mag, expliziert Georg Römpps Buch eine Geschichte der »praktischen Philosophie« (18) vom Guten und Bösen als ambivalente Entwickungsdynamik im »Prozess der Selbstverständigung« (221) und »Auseinandersetzung mit sich selbst« (224). Der Begriff der Werte sei demgegenüber »nicht geeignet, die Identität des Westens zum Ausdruck zu bringen« (10); Werte seien integriert in Begründungszusammenhänge »genormter Gebäude« (225), definitorischer Schemata und statischer Systematiken (22), die die »Voraussetzungen« des Denkens ausblenden, »die für die westliche Welt von so fundamentaler Bedeutung« sind (11): die ambivalente Bewegung des Geistes »in Widersprüchen und im Zusammenhang komplexer Gedanken« (12), ideengeschichtlich aufeinander aufbauend in der Suche nach dem, »was gut und böse ist, nach dem guten und gelingenden Leben« (20) im Fluchtpunkt einer Verantwortungsethik.
R. stellt zunächst die »Grundierung« des »Geistes des Westens« dar: die Megastory des Alten Testaments von dem paradoxen Wunsch des ersten Menschen, »eine Welt zu verlassen, in der ›alles gut‹ war, und eine Welt zu erobern, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wird« (222.24 ff.) und die Große Erzählung des Neuen Testaments von einer »weiteren Revolution« (222.34 ff.), dass Gott sich dem Menschen gleich machte, wodurch die unvollkommene Welt mit ihren Ambivalenzen von Gut und Böse eine »eigene Vollkommenheit« (42) erfährt und die »Grenzen« durch die »Andersheit des anderen« (223) sich als Herausforderung zur ethischen Verantwortung erweisen.
In sechs »Themenkreisen« will R. sodann die »Tiefenstruktur« (219) des »Geistes des Westens« entfalten mithilfe von zwölf philosophischen Konzeptionen über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. Jeder Themenkreis wird dabei durch die doppelte Behandlung in seiner »gedanklichen Dynamik« und »Ambivalenz« kenntlich gemacht. Nicht um philosophische »Puzzleteile« (224) handelt es sich, sondern um anstoßende »Momente« (226), die in der Dynamik des Denkens »alles Feste flüssig und beweglich« machen (227).
Die von R. in eigener Weise ausgewählten »Themenkreise« sind folgende: 1. »Das Gute und sein philosophischer Anfang« (49–77) für den »Geist des Westens« durch die Gegenüberstellung von Platon und Aristoteles; 2. »Das gute Leben und das Glück des Menschen« (78–101), wie es durch Epikur und die Stoa den »Geist des Westens« mitinspirierte; 3. »Das kalkulierte und das natürliche Gute« (102–124) im Utilitarismus und in der Moral-Sense-Ethik, das als Nutzen des Guten Eingang in den »Geist des Westens« fand; 4. »Das Gute im Menschen und in der Welt« (130–158), gegensätzlich im Denken Kants und Hegels systematisch dargelegt, das den »Geist des Westens« im Sinn des »inneren« und des »äußeren« Guten befruchtete; 5. »Das Gute und der Schein« (158–188), wonach mit Nietzsche und mit der evolutiven Ethik die »Erfindung des Guten« nachhaltig den »Geist des Westens« beeinflusste; 6. »Der andere Mensch und das Gute« (188–218) – Habermas’ Diskursethik und Lévinas’ verantwortungsethische Herausforderung des Guten durch die »Andersheit des anderen« prägen weiter in Anknüpfung an die beiden Megastories zukunftsoffen den »Geist des Westens«.
Als »ambivalente Entwicklungsdynamik« stellt sich der »Geist des Westens« dar; »nur in der Bewegung solcher Auseinandersetzungsprozesse gewinnt er seine Identität« (226). R. stellt somit am Ende der Monographie fest: »Eine Identität in festen Begriffen und klar definierbaren Positionen kann der westliche Geist nicht bieten. Wir sollten darin nicht eine Schwäche, sondern seine fundamentale Kraft und Lebensfähigkeit erkennen. Die Identität des Geistes des Westens hat kein Fazit.« (228)
Es handelt sich um eine anregende, gut lesbare, ohne Fußnoten und Anmerkungen geschriebene Studie zum »Geist des Westens« als Geschichte des Guten und Bösen. Angesichts der Leitperspektive von einer geistigen Strömungsbewegung anstoßender ambivalenter »Momente« in ihrer Beziehung auf »Momenta« (226) multipel fluktuierenden Charakters postmoderner Provenienz stellt sich dem Leser die Frage nach dem Verständnis von »Identität« im Kontext der gegenwärtigen Identitätsdiskussion. Auch stellt sich die Frage nach dem Verständnis und den Konturen eines nicht dem »Geist des Westens« zugehörigen »Geistes«, gegenüber dem der »Geist des Westens« die von R. explizierte »Identität« kennzeichnet.
An die Entfaltung einer »praktischen Philosophie« mag auch die Frage nach den materialethischen Konkretionen und ihre Operationalisierung für Bildungs- und Erziehungsprozesse gestellt werden. Anstelle der abgelehnten, gewiss auch im Blick auf den ge­schichtlichen Wandel noch zu vertiefenden Wertediskussion wäre auch eine fundamentalethische Berücksichtigung naturrechtlicher oder grundrechtlicher Maximen sowie göttlicher Gebote für den Grundkonsens gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Basis der in der Menschenwürde fundierten Menschenrechte und Menschenpflichten hilfreich.
So wirft die interessante Studie R.s – ihrem eigenen Grundansatz und Anspruch konform – wieder neu die Fragen nach der »Identität« des »Geistes des Westens« auf, nach Gut und Böse und dem gelingenden Leben.