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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1150-1151

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pearson, Lori K.

Titel/Untertitel:

Beyond Essence. Ernst Troeltsch as Historian and Theorist of Christianity.

Verlag:

Harvard-London: Harvard University Press 2008. XVIII, 252 S. 8° = Harvard Theological Studies, 58. Kart. US$ 28,00. ISBN 978-0-674-01919-5.

Rezensent:

Christoph Strohm

Ausgangspunkt der unter Anleitung von Sarah Coakley an der Harvard Divinity School erarbeiteten Dissertation ist eine Analyse von Ernst Troeltschs programmatischem Text Was heißt ›Wesen des Christentums‹?. Die Vfn. ordnet diese zuerst 1903 in der Zeitschrift Christliche Welt und dann noch einmal 1913 in überarbeiteter Fassung erschienene Schrift in ihren geistesgeschichtlichen Kontext ein. Im Wintersemester 1899/1900 hatte Adolf von Harnack in Berlin seine außerordentlich wirkungsvollen Vorlesungen über Das Wesen des Christentums gehalten. Darin beschrieb er die Verkündigung Jesu von der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen als das Wesen des Christentums. Die Reformation und der Neuprotestantismus hätten dieses Wesen bewahrt, während die Orthodoxie und die katholische Kirche davon abgewichen seien. Bislang wurde Troeltschs Schrift im Wesentlichen im Gespräch mit Harnack und dessen katholischem Gegner Alfred Loisy interpretiert. Die Vfn. bezieht nun auch Troeltschs Rezeption und Kritik der historischen Methode Heinrich Rickerts ein. Die plausible Begründung dafür ist Troeltschs enthusiastische Besprechung von dessen Werk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Freiburg 1896) im Jahre 1902. Mit Rickert sieht Troeltsch die Aufgabe des Historikers darin, die individuellen Sachverhalte herauszuarbeiten. Das Wesen des Christentums lasse sich nicht ohne die subjektiven Kriterien des Historikers, mit deren Hilfe er das wichtigste Individuelle auswählt, finden (zu den Einflüssen Rickerts auf Troeltsch vgl. 34–39).
Die Vfn. arbeitet vier unterschiedliche Zugänge zum Verständnis des »Wesens des Christentums« in Troeltschs Schrift von 1903 heraus: erstens »as a general concept of historical science« (40), zweitens »to denote the distinctive identity or features of Christianity« (41), drittens »to allude to a spiritual principle inherent in the process or development of Christian history itself« (41), und viertens »to refer to a concept belonging ultimately to ethics and the philosophy of history« (43). Troeltsch versuchte ,mithilfe des Begriffs »Wesen« eine »Theorie des Christentums« zu entwickeln, in der Interpretation der Geschichte und gegenwärtige Normativität miteinander verbunden werden. Die Vfn. arbeitet in drei weiteren Kapiteln heraus, in welcher Weise dieses Konzept Troeltschs Hauptwerk Die Soziallehren des Christentums beeinflusst hat. Im zweiten Kapitel wird dessen Rekonstruktion der Anfänge des Chris­tentums herausgearbeitet. Hier geht es insbesondere um das Verhältnis des »rein Religiösen« zu verschiedenen Sozialgestalten. In einem weiteren Kapitel untersucht die Vfn. Troeltschs Darstellung des Zusammenwirkens christlicher Ideen mit von außen kommenden Traditionen wie zum Beispiel dem stoischen Naturrechtsgedanken. Sichtbar werden die damit verbundenen Entwicklungen im Mittelalter und der Reformationszeit. Das vierte Kapitel erörtert die wohlbekannte Typologie von Kirche, Sekte und Mystik in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext. Hier wie auch in den vorangegangenen Kapiteln zeigt die Vfn. auf, dass Troeltsch die normativen Aspekte jeder historischen Rekonstruktion herausstellt. So wird auch sichtbar, dass nach Troeltschs Auffassung die zukünftige Gestalt des Christentums die drei Sozialgestalten miteinander verbinden müsse, um der Komplexität des christlichen Erbes gerecht zu werden.
Im Zuge des in den Soziallehren unternommenen Versuchs, die Vielgestaltigkeit des Christentums zu typologisieren, erfährt die Suche nach dem Wesen des Christentums eine Modifizierung. Das Bewusstsein der Spannung zwischen der Vielgestaltigkeit der historischen Phänomene und der Suche nach generalisierenden und normativen Urteilen führt Troeltsch über sein ursprüngliches Konzept eines Wesens des Christentums hinaus. Sein spätes Werk Der Historismus und seine Probleme (Tübingen 1922) deutet die Vfn. als Quintessenz der Arbeit an den Soziallehren. Hier ist das Konzept der »essence« durch das einer »cultural synthesis« ersetzt. Damit können nach Troeltschs Auffassung das Miteinander von Wandel und Kontinuität in der Geschichte, aber auch die ethischen Interessen, die das Studium der Geschichte immer leiten, erfasst werden. »As Troeltsch develops his theory of historical phenomena such as Christianity, he moves from the concept of an essence to that of a synthesis. In his view, the latter improves upon the former not only in offering an adequate conception of the historical object and its complex constitution, but also in providing a new vision of the structure, unity, and character of modern life in the present and future« (197). Abschließend wird die Relevanz der Erörterungen Troeltschs für die Systematische Theologie und die Geschichtsphilosophie der Gegenwart erörtert.
Die Arbeit überzeugt durch präzise Textinterpretation und eine für amerikanische Dissertationen ungewöhnlich breite Verarbeitung deutschsprachiger Quellen und Literatur. Mit der Interpretation der vielbehandelten Soziallehren im Kontext der Entwicklung von der frühen Frage nach dem Wesen des Christentums zur späten synthetischen Theorie des Christentums gelingt ihr ein substantieller Beitrag zur Troeltsch-Forschung. Zudem werden die späten Erörterungen der Unmöglichkeit eines Historismus ohne ethische Wertentscheidungen als Ertrag der eingehenden Studien zum Verhältnis von Ideen und Sozialgestalten in den Soziallehren herausgearbeitet. Auch das ist bisher in so profunder Weise nicht geschehen.