Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1143-1145

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bergsjø, Michael O.

Titel/Untertitel:

Kierkegaards deiktische Theologie. Gottesverhältnis und Religiosität in den Erbaulichen Reden. Aus d. Dänischen übers. v. K.-M. u. H. Deuser.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XII, 281 S. gr.8° = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 20. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-11-020729-3.

Rezensent:

Claudia Welz

Das zu besprechende Werk ist die Übersetzung der von Arne Grøn betreuten dänischen Dissertation von Michael Bjergsø, ehemals Olesen: eine systematische, chronologisch angelegte Interpretation der Erbaulichen Reden mit Seitenblick auf einzelne pseudonyme Werke Kierkegaards. Im Gegensatz zu den stadientheoretischen Auslegungen bei Malantschuk und Müller, die von der Religionstheorie des Climacus ausgehend eine stufenweise Existenzentwick­lung sehen, sowie im Gegensatz zu Kingos paradox-religiöser Auslegung der Reden untersucht der Vf. diese zunächst unabhängig von der Theorie des Climacus. Wie Bruun und Grøn liest der Vf. die Texte phänomenologisch in einer thematischen Perspektive.
Er vertritt folgende Thesen: 1. Die Religiosität der erbaulichen Reden ist ihrem Ausgangspunkt und Ziel nach schöpfungstheologisch, doch dazwischen liegen Offenbarung, Auferstehung und Himmelfahrt, was einen trinitarischen Gottesbegriff und ein positives Verhältnis zwischen dem Humanen und Christlichen impliziert. Dieser deiktischen Theologie des Verwiesenseins auf Gott, den Nächsten und die Welt steht die traktische Theologie des Hingezogenseins zu Christus in der Einübung im Christentum des Anti-Climacus gegenüber. 2. Die Religiosität der Reden folgt nicht der Chronologie der Werke, denn in den Taten der Liebe wird voraus­gesetzt, was erst später zur Darstellung kommt. 3. Die deiktische Theologie unterscheidet sich von der Religionstheorie des Climacus in der Nachschrift, während die traktische Theologie einiges mit Religiosität B gemeinsam hat.
Teil I des Buches handelt von der »Existenz in der Welt«, näherhin von der Zeitlichkeit, dem Problem der Verschiedenheit und den Bewegungen des Gottesverhältnisses, Teil II von »Gott in der Welt«, näherhin von Reue und Nächstenliebe, und Teil III von der »Welt des Kreuzes«, d. h. der Christologie des Leidens und der Versöhnung.
Teil I konzentriert sich auf die Erbaulichen Reden 1843–44 und Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten von 1845. »Die Aufgabe besteht darin, sich selbst zusammenzuhalten in der Zeit und gegen die Zeit.« (27) Im Verhältnis zur Zeit, in Erwartung und Geduld, ist es entscheidend, wonach ein Mensch strebt, im Vergleich mit anderen aber, was der Maßstab ist. Unter der Bedingung des Todes und als Geschöpf Gottes ist der eine dem anderen gleich. Wer sich Gott nähert, sieht sich als Sünder. Die Sünde ist die Verzerrung des Humanen, ein Missverhältnis zu sich selbst, zu Gott und zur Welt. Ist Gott dem Menschen näher als dieser sich selbst, ist Gott nur zu finden, wenn der Mensch sich findet – als Teil der Welt und im Gegensatz zu ihr, bis er sie neu entdeckt als Schöpfung, in der er sich entfalten soll. Das Muster ist Schöpfung – Sündenfall – Erneuerung, ohne dass die Reden vor 1846 schon explizit christlich wären.
Teil II widmet sich den Erbaulichen Reden in verschiedenem Geist und den Taten der Liebe von 1847. Die Beichtrede thematisiert das Zweifach-gesinnt-sein als Hauptproblem des Menschen, dessen Einheit mit Gott und sich selbst zerbrochen ist. Durch Reue kann der Mensch trotzdem an Gott und sich selbst festhalten. Die Reue selbst kann nichts tun, aber ohne sie kann nichts getan werden. Das Gebot der Nächstenliebe verlangt Selbstverleugnung, d. h. Aktivität auf der Basis von Passivität, sofern der Mensch seinem Nächs­ten erst ein Nächster werden soll. In der Liebe offenbart sich Gott dem Menschen, indem er von sich weg auf den Nächsten weist. Die deiktische Theologie in der Spannung zwischen Schöpfung und Offenbarung betrifft auch Gottes Gegenwart im Geist der Liebe.
Teil III betrachtet die Christlichen Reden von 1848, Einübung im Christentum von 1850 und die Abendmahlsreden von 1848–51. Leiden ist spezifisch christlich, wenn ein Mensch es nach Christi Vorbild freiwillig annimmt und gehorsam sein Kreuz trägt, auch wenn dies Missverständnis und Martyrium nach sich zieht. In der Nachfolge lernt er, Gott walten zu lassen und sich selbst loszulassen. Christus ist dem Leidenden Seelsorger, Heiland und Stellvertreter. Er zieht die Erniedrigten aus der Hoheit zu sich: ohne Leiden keine Erlösung. Der christozentrische Zug der traktischen Theologie schließt Schöpfungstheologie und Ethik aus, denn die Welt gilt als Ort des Leidens, der vergehen soll. Die Abendmahlsreden sind eine Art missing link zwischen Reue und Liebe, sofern Christus den Menschen weg vom Altar auf seinen Nächsten hin und in die Welt zurück verweist.
Zum Schluss kontrastiert der Vf. den lebendigen, trinitarischen Gott der Erbaulichen Reden mit Gott als höchstem Prinzip in Rel. A und Christus als Gott in der Zeit in Rel. B. Während die Reden das Gottesverhältnis in jedem menschlichen Verhältnis impliziert sehen, ist der Mensch in Rel. A in der Sünde gefangen, Rel. B aber konzentriert das Gottesverhältnis auf die Gleichzeitigkeit mit Christus. Während im Erbaulichen ein ethischer Aspekt liegt, beinhaltet Rel. A lediglich Sympathie mit anderen, Rel. B dagegen den Bruch mit Nicht-Christen. Anders als die deiktische Theologie gleicht die traktische Theologie der Rel. B in ihrer Paradoxchristologie und Weltferne. Doch ist das Gottesverhältnis der Rel. B nicht so dynamisch wie das der traktischen Theologie. Climacus’ Zugang ist theoretisch (polemisch), der Zugang der Erbaulichen Reden praktisch (seelsorgerlich), und Anti-Climacus steht dazwischen. Der Vf. parallelisiert Rel. A mit der Existenz in der Welt, Rel. B mit der Welt des Kreuzes; der allgegenwärtige Gott in der Welt fehle in Climacus’ Religionstheorie. Dass die Schöpfung vor ihrem Schöpfer steht, werde erst durch das Dazwischentreten von Offenbarung, Auferstehung und Himmelfahrt wieder möglich (274).
Stimmt diese Konklusion, wird allerdings fraglich, ob die deiktische Theologie ohne die traktische auskommt; ist die traktische mit unausgesprochenen Voraussetzungen in der deiktischen enthalten, sind die beiden nicht entgegengesetzt. Wenn Christus wie Gott von sich weg auf den Nächsten und die Welt weist, können die Welt und der Nächste nicht »in einem prinzipiellen Gegensatz zum Menschen in der Nachfolge Christi« (265) stehen. Und wird nicht die Präsenz Gottes in und für Christus übersehen, wenn nur vom Weggang Christi gesagt wird, er ermögliche die Präsenz des Allgegegenwärtigen (272)? Auch andere Formulierungen werfen inhaltliche Fragen auf, z. B. ob die Geduld außerhalb der Zeit ist oder gründet (53) und ob wirklich vom Menschen oder nicht eher von Gott gilt, dass er Liebe ist (264).
Diese Anfragen sollen jedoch das Verdienst des Vf.s nicht schmälern. Er füllt ein Forschungsdesiderat, indem er das erbauliche Werk als Ganzes in Bezug zu den (Anti-)Climacus-Schriften setzt, sichtet die bisherige Sekundärliteratur mit sicherem Sinn für Qualität und bereichert die Diskussion mit neuen, originellen Thesen. Die Darstellung ist klar, detailliert und überschaubar. Jeder Teil schließt mit einer weiterführenden Zusammenfassung. Daher kann sich der Vf. sogar ohne Verluste ein Sachregister sparen. Sein Buch ist inspirierend, gründlich, leicht zugänglich und sei hiermit allen Kierkegaardforschern und -freunden ans Herz gelegt.