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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1138-1140

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lehnardt, Andreas

Titel/Untertitel:

Die Jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938–2008. Eine Dokumentation.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2009. 260 S. m. Abb. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Neue Folge, 8. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-515-09345-3.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die Studie stellt den vorläufigen Ertrag einer Forschungsarbeit des Autors dar, die er seit der Übernahme der Verantwortung für die in den Bibliotheksräumen der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Leihgabe eingestellte Jüdische Bibliothek im Jahre 2004 betrieben und ein gutes Stück vorangebracht hat. Der Dokumentation gehen bereits einige Publikationen voraus, die sich mit dem Gegenstand befassen und den einzelne Aspekte wie »Einbandfragmente« umfassenden Forschungsstand spiegeln. Von Bedeutung ist die Forschungsarbeit auch für die Jüdische Gemeinde in Mainz, wie die Vorsitzende, Stella Schindler-Siegreich, in ihrem Grußwort bestätigt.
In der Einleitung wie auch später weist L. zu Recht auf die Bedeutung des einzigartigen Schatzes der Jüdischen Bibliothek hin, den es zu heben gelte. Entdeckungen wie z. B. die einer Ketubba aus dem 18. Jh., »die sich bei … Restaurierungsarbeiten zufällig im Buchdeckel eines frühen Druckes fand«, sind ein Beweis dafür, dass kostspielige Restaurierungsarbeit nicht nur für die Erhaltung, sondern auch für die Erforschung der Bibliothek wichtig ist und bedeut­same Erkenntnisse über die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft als Teil auch der Geschichte des Landes zutage fördern kann.
In seinem 2. Kapitel (Vom »Portativen Vaterland« zur Jüdischen Bibliothek) stellt L. die Geschichte der Bibliothek in den Rahmen der Entwicklung einer jüdischen Schriftkultur, wobei er sowohl die Handschriften als auch die Entwicklung der frühen Drucke seit 1474 berücksichtigt. Mit seinem Hinweis auf eine sich vor allem in der Reformationszeit entwickelnde humanistisch geprägte, die Vielfalt der gedruckten Werke einschränkende christliche Hebra­-istik, die stets »Hilfswissenschaft der Theologie« geblieben sei, leitet L. eine kritische Sicht ein, die er später mit weiteren kritischen Anmerkungen zu einer die Wissenschaft vom Judentum vereinnahmenden Theologie, die auch zur Vernachlässigung der Bibliothek mit beigetragen habe, fortsetzt.
Die komplexe Quellenlage zur Erforschung der Bestandsgeschichte, die L. am Ende dieses Kapitels darstellt, führt zu differenzierten Erkenntnissen, aber auch zu manch offener Frage, wie L. im Folgenden durch akribische Analyse von Stempeln und Besitzvermerken darstellt. Die Zusammenführung der beiden größeren Bestände aus der liberalen Hauptgemeinde und der davon aufgrund eines Streites um die Einführung einer Konfirmation und einer Orgel für den Gottesdienst seit 1849 getrennten orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft ist dabei wohl gesicherte, aber insgesamt zu oberflächliche Erkenntnis, die L. deutlich vertieft. Im 3. Kapitel (Be- und Zustand) beschreibt er, ausgehend von den Vorarbeiten seiner Vorgänger Eugen Ludwig Rapp und Günter Mayer zur Bestandsaufnahme, den schlechten Zustand der Bibliothek und ihrer Kataloge, um dann die genannte genauere Analyse vorzunehmen.
So lässt sich aus Stempeln und Besitzvermerken die Herkunft aus den Beständen der beiden Rabbiner Markus Lehmann (orthodox) und Siegmund Saalfeld (liberal), Letzterer häufiger in deutschen Büchern belegt als in hebräischen, erschließen und das Wachsen des Bestandes auch anhand weiterer Erkenntnisse zur Herkunft der Bücher nachvollziehen und mit der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft verbinden. Wie alle Teile des vorliegenden Bandes ist auch hier L.s Darstellung durch schwarzweiße Abbildungen visuell untermauert. Diese Ergebnisse vertieft L. im 4. Kapitel (Die Bibliotheken in der Bibliothek), in dem er der Ge­schichte einzelner, vor allem älterer Bände nachgeht, deren Herkunft sich mit dem Namen Samuel Oppenheimer (1630–1703) verbindet. Er geht dann auf weitere Personen ein, die durch Vermerke in den Büchern für die Bestandsgeschichte aufschlussreich sind, Herz Scheuer, Abraham Loeb Schles(s)inger, bevor er eben zu Marcus Lehmann, aus dessen Bestand 70 % der Hebraica in der Jüdischen Bibliothek stammen, und Siegmund Saalfeld kommt. Neben den biographischen Informationen und der näheren Darstellung der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Mainz ist besonders die Verschränkung der Bibliotheksgeschichte mit der weiteren Entwicklung der Gemeinde interessant, vor allem die Zusammenlegung der »Lehmann-Bücherei« mit dem Saalfeldbestand vor dem Hintergrund der Zwangsvereinigung der beiden seit 1849 bzw. 53 getrennten Gemeinden in der Zeit des Nationalsozialismus. So sind denn das 5. und 6. Kapitel (Der Werdegang der Bücher seit 1938 und Die Bücher in der Evangelisch-Theologischen Fakultät), die der Geschichte der Bibliothek, ihrer Rettung in und nach der Pogromnacht und ihrer Verbringung als Leihgabe in die Evangelisch-Theologische Fakultät gewidmet sind, für den zeitgeschichtlich interessierten Leser von großem Interesse.
L. geht den Ereignissen anhand der Quellen genau nach. Er kann darstellen, dass im Unterschied zu den Aktionen gegen jüdisches Eigentum in der Pogromnacht offen bleiben muss, was mit den Büchern in dieser Nacht genau geschah. Anhand eines Briefwechsels zwischen dem Reichsstatthalter Hessen und der Stadtbibliothek Mainz, in dem es um die staatliche Auswertung des jüdischen Buchbestandes ging, kann L. die Verbringung der Bücher in die Stadtbibliothek nach vorübergehender Lagerung in den Kellerräumen der noch nicht völlig zerstörten Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße nachzeichnen. Auch der Transport in Kohlesä­cken scheint plausibel, die von Eugen Ludwig Rapp und seinem Schüler Otto Böcher verbreitete Version, die Bücher seien von beherzten Mitgliedern der beiden jüdischen Gemeinden rechtzeitig vor der Pogromnacht unter Kohlen und Gerümpel versteckt worden, hält L. indes für nicht haltbar. Auch die Geschichte der Mainzer Bücher im Dritten Reich bindet L. in die Geschichte der gesamten »Bücherverfolgung« im Nationalsozialismus ein.
Nach dem Krieg kam die Bibliothek nach vorübergehender Lagerung in der Feldbergschule in die Evangelisch-Theologische Fakultät der neu gegründeten Universität Mainz, nachdem die Gründung einer eigenständigen »Jüdisch-Theologischen Fakultät« aus verschiedenen Gründen, wie L. darstellt, gescheitert war. Dieses Scheitern greift L. noch einmal im »Epilog« auf und bedauert es zu Recht. Die Unterbringung der Bücher in der Universität ist möglicherweise den Kontakten von Eugen Ludwig Rapp zu Michel Oppenheim, dem langjährigen Kulturdezernenten der Stadt, zu verdanken, der genaue Weg der Bücher in die Fakultät lässt sich allerdings nur noch schwer nachzeichnen. Das 6. Kapitel ist von kritischen Bemerkungen durchsetzt, die L.s auch an anderer Stelle bereits geäußerten Vorbehalte gegenüber der Eingliederung eines judaistischen Seminars in eine Theologische Fakultät spiegeln, eine Auffassung, die wohl bedenkenswert ist und dem Trend der Zeit entspricht, aber in ihrer wertenden Art historischen Gegebenheiten nicht immer Rechnung trägt.
So ist es kaum verwunderlich, dass der Buchbestand von Theologen sicher nicht so intensiv genutzt wird wie von spezialisierten Judaisten, aber die wertende Formulierung, dass es unter den »neuberufenen protestantischen Theologen immerhin einige« gegeben habe, die »über hinreichende Hebräisch-Kenntnisse verfügten, um die zahlreichen Hebraica des Bestandes überhaupt zu identifizieren und gelegentlich sogar zu nutzen« (113), passt in ihrem ironischen Charakter nicht zu der sonst sachlichen wissenschaftlichen Darstellung. Auch dass erst im Wintersemester 1953/54 innerhalb der Fakultät das »Seminar für die Wissenschaft des Spätjudentums« in »Seminar für die Wissenschaft des Judentums« umbenannt wurde, scheint mir eine historisch unangemessene Wertung. Hier setzt schon bald nach der Gründung der Fakultät eine positive Entwicklung ein, die Günter Mayer weitergeführt hat und die es auch unangemessen erscheinen lässt, die von ihm betriebene wissenschaftliche Judaistik stets in Anführungszeichen zu setzen. Er hat für seinen Nachfolger die Eigenständigkeit der Judaistik betreffend wichtige Vorarbeiten geleistet. Insgesamt bietet das Kapitel jedoch interessante Aufschlüsse über den Verbleib der Bü­cher und der Arbeit an ihnen, allerdings auch über ihre Vernachlässigung in der öffentlichen Wahrnehmung.
L. schließt mit dem detailreichen Kapitel 7 (Blicke in den Bestand). Neben der historisch interessanten Darstellung der jüngeren Bestände, die auf Bücher aus der jüdischen Bezirksschule, vereinzelt auch zionistische sowie auch antisemitische Titel eingeht, ist besonders die in Auswahl gegebene ausführliche Beschreibung der Zimelien (Rara) mit den dazu gegebenen Bildern eindrucksvoll. Insgesamt hat L. eine interessante und auch zeitgeschichtlich wertvolle Arbeit vorgelegt. Es ist sein Verdienst, die Bibliothek aus einer gewissen Vergessenheit geholt zu haben. Ob man dies mit öffentlich erhobenem Vorwurf gegen zum Teil bereits verstorbene Kollegen verbinden muss, sie seien aus Eigennutz an der Erhaltung des Status quo interessiert gewesen, aus Angst, die jüdische Gemeinde könne über ihr Eigentum verfügen (126, Anm. 63), sei dahingestellt.